Der Katechismus über den Modernismus
nach der Enzyklika Pascendi Dominici gregis des hl. Pius X.
Pius X. Erklärung der religiösen Philosophie – Sprossen des Glaubens
Viertes Kapitel.
Sprossen des Glaubens
§ 1. Dogma.
„Bisher ist die Rede gewesen vom Ursprung und vom Wesen des Glaubens. Da nun der Glaube viele Sprossen treibt, insbesondere die Kirche, das Dogma, den religiösen Kult und die heiligen Schriften, müssen wir auch untersuchen, was hierüber die Modernisten lehren.“
108. Was sagen sie zunächst über de Ursprung des Dogmas?
„Um mit dem Dogma zu beginnen, wurde oben schon gezeigt, welches sein Ursprung und Wesen sei. Es entsteht aus einer Art Antrieb oder Notwendigkeit, kraft deren der Gläubige in seinen Gedanken sich bemüht, sein eigenes Bewusstsein sowohl wie das der andern, mehr zu klären.“
109. Worin besteht diese Arbeit?
„Diese ganze Arbeit besteht darin, die ursprüngliche Formel des Verstandes zu feilen und zu glätten, nicht um dieselbe in sich logisch zu erklären, sondern um sie den Umständen gemäß, oder, wie sie ziemlich unverständlich sagen, lebendig auszudrücken.“
110. Was erzielt diese Arbeit nach den modernistischen Theologen?
„Dadurch entstehen allmählich, wie schon angedeutet, gewisse sekundäre Formeln; sind diese dann zu einem Körper oder zu einem Lehrgebäude vereinigt und vom öffentlichen Lehramt als dem allgemeinen Bewusstsein entsprechend anerkannt, dann nennt man sie Dogmen. Davon sind die Erörterungen der Theologen wohl zu unterscheiden.“
111. Wozu dienen dann diese theologischen Erörterungen?
„Obwohl diese am Leben des Dogmas nicht teilnehmen, sind sie doch nicht unnütz, um einerseits die Religion mit der Wissenschaft in Einklang zu bringen und die Widersprüche zwischen beiden zu beseitigen, und andererseits, um die Religion auch nach außen hin zu beleuchten und zu verteidigen; vielleicht können sie auch von Nutzen sein, um den Stoff für ein neues Dogma vorzubereiten.“
§ 2. Kultus.
112. Welches ist die theologische Lehre der Modernisten über den Kultus?
„Über den religiösenKultus wäre nicht viel zu sagen, wenn unter diesen Namen nicht auch die Sakramente gefaßt würden; über diese sind bei den Modernisten die größten Irrtümer.“
113. Woraus entsteht nach ihnen der Kultus?
„Der Kultus soll aus einem doppelten Antrieb oder einer doppelten Notwendigkeit entstehen; denn alles soll, wie wir sahen, in ihrem System aus inneren Antrieben und Notwendigkeiten hervorgehen. Die eine dient dazu, die Religion sinnlich wahrnehmbar zu gestalten, die andere, sie zum Ausdruck zu bringen, was freilich keineswegs geschehen kann ohne wahrnehmbare Form und heiligende Handlungen, die wir Sakramente nennen.“
114. Was sind die Sakramente für die Modernisten?
„Die Sakramente sind für die Modernisten nur bloße Symbole und Zeichen, ohne deshalb der Kraft zu entbehren.“
115. Wie suchen die modernistischen Theologen diese Kraft zu erklären?
„Um diese Kraft zu erklären, gebrauchen sie das Beispiel gewisser Schlagwörter, die, wie man gewöhnlich sagt, gut ‚ziehen‘, weil sie die Kraft besitzen, gewisse Ideen, welche die Gemüter besonders anregen, zu verbreiten. Wie diese Schlagwörter auf die Begriffe hingeordnet sind, so die Sakramente zum religiösen Gefühl: weiter nichts. Deutlicher würde man sagen, die Sakramente seien einzig deshalb eingesetzt, damit sie den Glauben nährten. Das hat aber das Konzil von Trient verurteilt: ‚Wenn jemand behauptet, die Sakramente seien eingesetzt einzig, um den Glauben zu nähren, der sei im Banne‘ (7. Sitzung, De Sacramentos in genere, can. 5)“.
§ 3. Heilige Schrift. – Inspiration.
116. Was sind die Bücher der Heiligen Schrift für die modernistischen Theologen?
„Vom Ursprung und Wesen der Heiligen Schrift haben Wir auch schon etwas gesprochen. Nach modernistischer Ansicht könnte man sie gut definieren als eine Sammlung von außergewöhnlichen und hervorragenden Erfahrungen, die nicht jedem einzelnen zuteil werden und doch in jeder Religion vorkommen. Ganz genau so lehren die Modernisten von unsern Büchern des Alten und des Neuen Testamentes.“
117. Da die Erfahrung sich auf Gegenwärtiges bezieht, diese Bücher aber Vergangenes und Zukünftiges enthalten, wie können da die heiligen Schriften Sammelwerke von Erfahrungen genannt werden?
„Zu ihrer Ansicht bemerken die Modernisten mit größter Schlauheit: obwohl die Erfahrung auf die Gegenwart sich bezieht, kann sie doch ihren Stoff aus der Vergangenheit oder auch aus der Zukunft hernehmen, insofern nämlich der Gläubige das Vergangene als gegenwärtig erlebt. So erklärt es sich, daß historische und apokalyptische Bücher zur Heiligen Schrift gerechnet werden können.“
118. Sind denn die Bücher der heiligen Schrift nicht Gottes Wort?
„Gott spricht allerdings in diesen Büchern durch den Gläubigen, aber nach der modernistischen Theologie nur durch die Immanent und die vitale Permanenz.“
119. „Man wird nun fragen, was ist es dann um die Inspiration?“
„Diese, antworten sie, unterscheidet sich höchstens durch ihre Stärke von jenem antrieb, wodurch der Gläubige gedrängt wird, seinen Glauben in Wort oder Schrift zu offenbaren. Etwas Ähnliches findet man in der poetischen Inspiration; deshalb sagte jemand: Es wohnt ein Gott in uns, durch seinen Hauch werden wir begeistert. Auf diese weise muss man sagen, Gott sei der Ursprung der Inspiration unserer heiligen Bücher.“
120. Nehmen sie denn auch eine allgemeine Inspiration an?
„Von dieser Inspiration sagen die Modernisten, daß nichts in der Heiligen Schrift sei, was ihrer entbehrte. Wenn sie dies behaupten, sollte man sie für rechtgläubiger halten als andere neuere Autoren, die die Inspiration etwas einschränken, wie z.B. durch Annahme sogenannter stillschweigender Zitationen. Doch das tun jene nur dem Worte nach und zum Schein. Denn, wird die Bibel nach den Grundsätzen des Agnostizismus beurteilt als menschliches Werk, von Menschen und für Menschen geschrieben, wenngleich der Theologe sie im Sinne der Immanenz göttlich nennen darf, wie könnte da von Einschränkung der Inspiration die Rede sein? Eine allgemeine Inspiration der Heiligen Schrift nehmen die Modernisten an; aber eine Inspiration im katholischen Sinne erkennen sie nicht.“
§ 4. Die Kirche: Ursprung, Natur und Rechte.
„Mehr Stoff zum Reden bieten die Phantasien der modernistischen Schule über die Kirche.“
121. Wie erklären die Modernisten die Entstehung der Kirche?
„Sie sagen zunächst, die Kirche sei aus einer doppelten Notwendigkeit entstanden: einer ersten, die in jedem Gläubigen liegt, besonders in jenem, der eine ursprüngliche und eigene Erfahrung gemacht hat, die ihn drängt, seinen Glauben andern mitzuteilen; einer zweiten, die, wenn einmal der Glaube mehreren zuteil geworden, diese Gemeinschaft dazu antreibt, sich zusammen zu schließen, das gemeinsame Gut zu schützen, zu mehren und zu verbreiten.“
122. „Was also ist die Kirche?“
„Sie ist die Frucht des Kollektiv-Bewußtseins oder der Verbindung des Bewusstseins der einzelnen, welche kraft der vitalen Permanenz von einem ersten Glaubenden, d. h. für die Katholiken von Christus abhängen.“
123. Woher kommt dann die disziplinäre, dogmatische und liturgische Gewalt der Kirche?
„Jede Gesellschaft bedarf einer leitenden Autorität, welche die Pflicht hat, alle Mitglieder zum gemeinschaftlichen Ziele zu führen und die verbindenden Elemente mit Klugheit zu schützen; bei einer religiösen Vereinigung sind dies die Lehre und der Kultus. Daher in der katholischen Kirche die dreifache Autorität: die disziplinäre, dogmatische und liturgische.“
124. Woher leiten die Modernisten die Natur und die Rechte der Autorität?
„Die Natur dieser Autorität leiten sie von ihrem Ursprung ab und aus der Natur ergeben sich dann die Rechte und Pflichten. In vergangenen Zeiten war es ein allgemeiner Irrtum, die Autorität sei von außen her, nämlich unmittelbar von Gott der Kirche verliehen worden; deshalb hielt man sie für autokratisch. Heutzutage ist dies veraltet. Wie nämlich die Kirche aus dem Kollektiv-Bewusstsein hergeleitet wird, so geht auch die Autorität vital aus der Kirche hervor.“
125. Die Autorität der Kirche hängt also von dem Kollektiv-Bewusstsein ab?
„Die Autorität, wie die Kirche, entspringt also aus dem religiösen Bewusstsein und ist somit diesem auch untergeordnet; entzieht sie sich dieser Unterordnung, so wird sie zur Tyrannei.“
126. Heißt das nicht eine demokratische Gewalt in der Kirche schaffen?
„Wir leben in einer Zeit, in welcher das Freiheits-Gefühl seinen Höhepunkt erreicht hat. Im Staate hat das öffentliche Bewusstsein die Volksregierung eingeführt. Nun ist aber das Bewusstsein im Menschen eins, wie auch das Leben. Will man also im Bewusstsein der Menschen nicht einen inneren Krieg entfesseln und schüren, dann muss die kirchliche Autorität demokratische Formen annehmen, und das um so mehr, weil sonst ihr Untergang droht. Denn es wäre eine Torheit, bei dem jetzt herrschenden Freiheitssinn an eine rückläufige Bewegung zu denken. Gewaltsam eingeschränkt und eingeengt würde er nur desto stärker hervor brechen, Kirche und Religion zerstören.“
127. Welches ist deshalb die Hauptsorge der Modernisten in dieser Beziehung?
„Das sind alles die Ansichten der Modernisten; deshalb bemühen sie sich aus allen Kräften, Mittel und Wege zu finden, um die Autorität der Kirche mit der Freiheit der Gläubigen zu versöhnen.“ –
aus: J.B. Lemius Obl. M. J., Der Modernismus Sr. H. Papst Pius X. Pascendi dominici gregis, 1908 S. 35 – S. 41