Was für eine Liebe gäbe es ohne das kostbare Blut Jesu?
Die natürliche und die christliche Menschenliebe
Selbst wenn Fleisch und Blut bewirkten, daß wir einander lieben, was für eine Trennung wäre der Tod? Wir würden unsere Toten dem Schoße der Erde übergeben ohne jede Hoffnung. Mann und Weib würden von einander scheiden mit der fürchterlichsten Gewissheit einer Wiedervereinigung, die schrecklicher wäre, als es ihre Trennung war. Mütter würden sich danach sehnen, ihre Kleinen in den Armen des Todes zu sehen, weil ihr Los weniger traurig wäre, als wenn sie am Leben blieben, um bei entwickelter Vernunft und verständigem Willen Gott zu beleidigen. Die süßesten Gefühle unserer Natur würden unnatürlich und die ehrenvollsten Bande entehrt werden. Unsere besten Triebe würden uns in die schlimmsten Gefahren stürzen. Unsere Herzen müssten lernen anders zu schlagen, um die traurigen Folgen zu vermeiden, die unsere zärtlichsten Neigungen über uns selbst und über andere bringen würden.
Aber es ist unnötig, weiter auf diese quälenden Einzelheiten einzugehen. Die Welt des Herzens ohne das kostbare Blut und mit einer Kenntnis von Gott und den Strafen, die er für die Sünde bestimmte, ist ein zu fürchterliches Bild, als daß wir es getreu im einzelnen ausmalen könnten.
Wie würde es den Armen in einer solchen Welt ergehen?
Sie sind der auserwählte Teil Gottes auf Erden. Er wählte selbst die Armut, als Er zu uns kam. Er hat die Armen an seiner Stelle hinterlassen. Sie sollen nie fehlen auf Erden, sondern daselbst bis zum Tage des Gerichts seine Repräsentanten sein.
Aber wenn das kostbare Blut nicht wäre, würde irgend jemand sie lieben? Würde irgend jemand eine Zuneigung zu ihnen haben und sein Leben sinnreichen Werken der Barmherzigkeit widmen, um ihr Los zu erleichtern? Wenn der Strom der Almosen jetzt so unzureichend ist, was würde dann erst sein? Es gäbe keine Sänftigung des Herzens durch die Gnade; es gäbe keine Anerkennung der Verpflichtung einen bestimmten Teil unseres Einkommens als Almosen weg zu geben; es gäbe kein verlangen, die Sünde durch Freigebigkeit gegen die Notleidenden aus Liebe zu Gott zu sühnen.
Das Evangelium erweitert die Herzen der Menschen, und doch fließt sogar unter dem Evangelium die Quelle des Almosens nur spärlich und ungewiß.
Aber dies alles ist nur die negative Seite, nur eine Abwesenheit Gottes. Die Dinge würden in einer solchen Welt, wie wir sie uns einbilden, viel weiter gehen.
Selbst in Ländern, die sich zum christlichen Glauben bekennen und wenigstens im Besitz der Kenntnis des Evangeliums sind, werden die Armen eine unerträgliche Last für die Reichen. Sie müssen durch Zwangs-Abgaben unterstützt werden und sind noch aus andern Gründen der beständige Gegenstand einer gereizten und über die Last ungeduldigen Gesetzgebung. Und doch verdanken wir es dem kostbaren Blute, daß der Grundsatz sie zu unterstützen anerkennt ist.
Nach dem, was wir in der heidnischen Geschichte lesen, selbst in der Geschichte von Nationen, die wegen politischer Weisheit, philosophischer Spekulation und wegen wissenschaftlicher und künstlerischer Bildung in hohem Rufe stehen, wäre es nicht übertrieben, den Schluß zu ziehen, daß, wenn nach den gegebenen Umständen eines Landes die Anzahl der Armen den Reichen Gefahr brächte, die Reichen sich keine Skrupel machten sie zu vertilgen, so lange es noch in ihrer Macht stünde. Die Reichen würden die Armen niederkämpfen, deren schreiendes Elend sie im Genuss ihrer Macht und ihres Besitzes bedrohen würde. Die Zahl der Armen würde auch Mordtaten vermindert werden, bis es für ihre Herren gefahrlos wäre sie zu Sklaven zu machen.
Die Geschichte, ich wiederhole es, zeigt uns, daß dies keineswegs eine übertriebene Annahme ist.
Die Erde würde zur Hölle
So wäre die Lage der Welt beschaffen ohne das kostbare Blut. Wie eine Generation auf die andere folgte, so würde die Erbsünde fortfahren jene unerschöpflichen bösartigen Kräfte zu entwickeln, die aus dem fast unbegrenzten Charakter des Bösen hervor gehen. Die Sünde würde die Erde in eine Hölle verwandeln. Die Menschen würden Teufel werden, Teufel für andere und für sich selber.
Alles, was das Leben erträglich macht, was dem Übel entgegen wirkt, was die Härte mildert, was die Bitterkeit versüßt oder was die Betrübnis tröstet: dies alles ist einfach dem kostbaren Blut Jesu zu verdanken, sowohl in heidnischen als in christlichen Ländern.
Es verändert die ganze Stellung einer sündhaften Schöpfung zu ihrem Schöpfer; es verändert, wenn wir in einem solchen Gegenstand von Veränderung sprechen dürfen, den Anblick der unveränderlichen Vollkommenheiten Gottes in Bezug auf seine Menschenkinder.
Es ist nicht bloß in einer geistlichen Sphäre wirksam. Es ist nicht bloß verschwenderisch mit zeitlichem Segen, sondern es ist die wahrhaftige Ursache alles zeitlichen Segens. Wir alle erfreuen uns jeden Augenblick fühlbar des wohltätigen Einflusses des kostbaren Blutes.
Aber wer denkt an dies alles?
Warum ist die Güte Gottes so verborgen, so unbemerkbar, so unvermutet? Vielleicht, weil sie so allgemein und so überaus groß ist, daß wir kaum frei handelnde Wesen wären, wenn sie immer fühlbar auf uns drückte. Gottes Güte ist die bekannteste aller seiner Eigenschaften und zugleich die verborgenste. Hat das Leben eine süßere Aufgabe als sie zu suchen und aufzufinden?
Wir verdanken Jesus absolut Alles
Die Menschen wären weit glücklicher, wenn sie die Religion nicht so gewaltsam von andern Dingen trennten. Es ist ebenso unweise als lieblos die Religion für sich selbst hinzustellen und sie mit einer unwahren Unterscheidung von allem auszuscheiden, was wir weltliche und ungeistliche Dinge nennen.
Natürlich ist zwischen ihnen ein Unterschied und zwar ein höchst wichtiger. Und doch ist es leicht diesen Unterschied zu scharf zu nehmen und ihn zu weit zu treiben.
So schreiben wir oft der Natur zu, was man nur der Gnade verdankt, und wir sehen von der Art und den Grade ab, in dem das heilige Geheimnis der Menschwerdung auf alle erschaffenen Dinge Einfluß übt.
Allein dieser Irrtum entzieht uns für immer Hunderte von Beweggründen Jesus zu lieben. Wir wissen, wie unaussprechlich Vieles wir Ihm verdanken; aber wir sehen nicht ein, daß es nicht Vieles ist, was wir Ihm verdanken, sondern Alles, einfach und absolut Alles.
Wir durchgehen Zeiten und Orte im Leben und erkennen kaum, wie die Süßigkeit Jesu die Luft um uns versüßt und natürliche Dinge mit übernatürlichem Segen durchbringt.
Die natürliche Menschenliebe
Daher kommt es, daß die Menschen zu viel aus der natürlichen Güte machen. Sie haben eine zu hohe Ansicht von menschlichen Fortschritten. Sie übertreiben die sittlichen Kräfte der Zivilisation und feinen Bildung, die, wenn sie nicht mit der Gnade in Verbindung stehen, bloß eine Tyrannei der Wenigen über die Vielen oder der Massen über die Seele des Einzelnen sind.
Unterdessen unterschätzen sie die verderblichen Einflüsse der Sünde und schreiben der Natur an sich, ohne Unterstützung seitens der Gnade, viele Vorzüge zu, die sie nur gleichsam durch Ansteckung aus der Nähe der Gnade oder aus der Berührung mit der Kirche erhascht. Selbst in religiösen oder kirchlichen Angelegenheiten sind sie geneigt nach andern Maßstäben als nach dem der Heiligkeit ihren Fortschritt zu bemessen oder ihre Lebenskraft zu prüfen.
Solche Menschen werden das voran stehende Bild von der Welt ohne das kostbare Blut als mit zu starken Zügen gezeichnet und zu dunkel schattiert ansehen. Sie glauben nicht an die Bösartigkeit des Menschen, wenn er von Gott abgewichen ist, und noch weniger sind sie geneigt zuzugeben, daß Kultur und feine Bildung diese Bösartigkeit noch verstärken.
Sie geben den höheren Vorzug der christlichen Nächstenliebe zu, aber sie haben auch eine hohe Meinung von der natürlichen Menschenliebe.
Auswirkungen der natürlichen Menschenliebe
Hat man aber diese Menschenliebe je gefunden, wo die mittelbaren Einflüsse der wahren Religion, sei es der jüdischen oder der christlichen, nicht durchgedrungen waren?
Wir können die Griechen wegen ihrer ausgezeichneten feinen Bildung und die Römer wegen der Weisheit ihrer politischen Mäßigung bewundern. Allein betrachtet die Stellung der Kinder, der Diener, der Sklaven und der Armen unter diesen beiden Systemen und seht, ob, während die äußerste Verfeinerung der Sünde nur auf den äußersten Grad der Verkommenheit trieb, die nämliche ausgesuchte Bildung nicht auch zu einer sozialen Grausamkeit und zu einer Selbstsucht des Einzelnen führte, die das Leben für die Massen unerträglich machten.
Die natürliche Menschenliebe ist nur etwas dem Evangelium Gestohlenes oder vielmehr ein Schatten, nicht ein Wesen, und ebenso unbrauchbar, wie es eben Schatten zu sein pflegen.
Und doch wollen wir diese natürliche Menschenliebe bei Wort nehmen und betrachten, was die Welt für ein Aussehen haben würde mit der Menschenliebe an Stelle des kostbaren Blutes.
Was könnte die Welt für die Armen tun?
Wir wollen die Welt nehmen, wie sie ist mit ihren gegenwärtigen Übeln. Was für einen Grad von Erleichterung kann die natürliche Menschenliebe bringen, gesetzt, es könnte ein solches Ding geben, ohne das Beispiel und die Atmosphäre des Evangeliums?
Was könnte die Welt ohne Jesus tun?
Vor allem was könnte sie für die Armut tun? Es würde ihr bange werden vor der Zahl der Armen, sie würde erschrecken vor ihren mannigfaltigen und dringenden Bedürfnissen. Alle möglichen unliebsamen Fragen würden sich erheben, für deren Lösung ihre Philosophie ihr keine einfachen Prinzipien darbieten könnte. Man hätte sein eigens Werk zu tun, sein eigenes Geschäft zu besorgen.
Es ist nicht denkbar, daß bloße natürliche Menschenliebe die Verwaltung der Almosen und den Dienst der Armen sich zu einem besondern Geschäft machen würde, ebenso wenig wäre an Selbstaufopferung im großen Maßstab zu denken, außer man betrachtet sie als eine Folgerung aus der Lehre vom Kreuz.
Während so das zu verteilende Almosen notwendig beschränkt sein müsste, dagegen die Ansprüche fast unbegrenzt wären, gäbe es kein Mittel die Unterstützung im rechten Verhältnis auszumessen.
Die unsichtbare Armut ist meistens etwas Würdigeres als die Armut, die gesehen wird; aber wer wollte mit geduldiger, herzlicher Teilnahme und mit instinktmäßigem Zartsinn der verschämten Armut in ihre dunklen Verstecke nachgehen? Die lautesten Bettler würden am meisten bekommen, die bescheidenen am wenigsten.
Die höchste Tugend, die bei der Verteilung der Almosen zu erstreben wäre, – und sie ist wirklich eine hohe Tugend – würde die Gerechtigkeit sein.
So käme es, daß jene, die durch Sünde oder Torheit die Armut über sich selbst gebracht hätten, gar keine Unterstützung erlangen würden, dann aber würde die christliche Mildtätigkeit aufhören eine Macht zu haben, die Menschen über ihr vergangenes Leben zu erheben oder ihren sittlichen Wert auf eine höhere Stufe zu bringen.
Die christliche Menschenliebe
Die Überspanntheit ist eine gewöhnliche Begleiterin des Elends, was aber überspannt ist, würde sich schwerlich der natürlichen Menschenliebe empfehlen, selbst wenn es nicht ein Beweis von Unaufrichtigkeit schiene.
Die christliche Nächstenliebe kann ihre Gleichmütigkeit nur behaupten, indem sie ihre Augen auf einen Gegenstand richtet, der höher ist als das Elend, das sie lindert. Was in dieser Hinsicht nicht für Gott getan wird, wird nur ungewiß und dürftig getan und macht uns der unliebenswürdigen und immer fordernden Armen bald überdrüssig.
Nur die Ähnlichkeit mit Jesus verschönert die Armut. Werke der Barmherzigkeit sind nicht anziehend für Herzen, die nicht von Liebe gerührt sind.
Überdies beruht kein geringer Teil von der Wohltätigkeit der christlichen Nächstenliebe auf ihrer Unregelmäßigkeit. Da sie von den Antrieben der Liebe kommt, hat sie eine Ebbe und Flut, die sie der scheinbaren Unebenheit und Ungleichheit der äußeren Vorsehung ähnlich machen, und dies, was die Vernunft als einen Fehler annehmen würde, wird in der Praxis wirklich zu einem größeren Segen als die Gleichheit und Pünktlichkeit eines bloß gewissenhaften und Gerechtigkeit liebenden Wohlwollens.
Die natürliche Menschenliebe muss eine Sphäre, einen Kreis, einen regelmäßigen Gang haben. Sie muss notwendig etwas vom politischen Ökonomen und etwas vom Polizeimann an sich haben. Sie darf nie durch Teilnahme für einzelne ihre Aufmerksamkeit von der öffentlichen Wohlfahrt abziehen lassen. Ihr Charakter muss eher gesetzgebend sein als plötzlichen Antrieben folgen. Plötzliche Unglücksfälle, eine schlechte Ernte, eine Handelskrisis, ein Winter mit vielen Kranken, diese Dinge würden die Berechnungen der natürlichen Menschenliebe unangenehm durchkreuzen.
Wenn die Summe der Selbstaufopferung so gering ist, während wir das Beispiel unseres Herrn und die Lehre haben, daß Almosen Seelen erlösen, sowie die wirkliche Verpflichtung bei Strafe der Sünde einen Teil unseres Einkommens für die Armen beiseite zu legen, was wäre dann, wenn alle diese Beweggründe weg fielen? –
aus: Frederick W. Faber, Das kostbare Blut oder Der Preis unserer Erlösung, 1920, S. 63 -S. 71