Pius XII.: Enzyklika „Humani Generis“ (1950)
Auszug
Der Papst über einen falschen Begriff vom Lehramt der Kirche
443 Leider lassen sich diese Reformer von ihrem Widerwillen gegenüber der scholastischen Theologie allzu leicht zur Nichtbeachtung, ja sogar zur Verachtung des kirchlichen Lehramtes selber hinreißen, das jener Theologie kraft seiner Autorität so hohe Anerkennung zollt. Dieses Lehramt wird nämlich von ihnen als Hemmschuh des Fortschrittes und als Bremsklotz der Wissenschaft hingestellt; gewisse Nichtkatholiken vollends betrachten es geradezu als ungerechten Zügel, wodurch einige Theologen mit höherer Bildung von der Erneuerung ihrer Fachwissenschaft abgehalten werden. Und obwohl dieses heilige Lehramt in Sachen des Glaubens und der Sitten für einen jeden Theologen die nächste und allgemeine Wahrheitsnorm sein muss, da ihm ja Christus der Herr den ganzen Glaubensschatz – Heilige Schrift nämlich und göttliche Überlieferung – zur Bewahrung, Verteidigung und Auslegung anvertraut hat, so wird dennoch die bindende Pflicht der Gläubigen, auch jene Irrtümer zu meiden, die mehr oder weniger der Häresie nahe kommen, und folglich „auch die Erlasse und Entscheide zu beobachten, wodurch dergleichen abwegige Ansichten vom Heiligen Stuhl verworfen und verboten wurden“ (Cod. Iur. Can. c. 1324; vgl. Vatik. Konzil, Konst. De fide catholica, cap. 4, De fide et ratione, post canones. Denz. Nr. 1820), bisweilen dermaßen verkannt, als ob sie gar nicht bestände. Die Ausführungen in den Rundschreiben der Römischen Päpste über Wesen und Verfassung der Kirche pflegen gewisse Leute mit Bedacht in der Absicht zu übersehen, um einem verschwommenen Begriff zur Vorherrschaft zu verhelfen, den sie aus den Schriften der frühen, besonders der griechischen Väter geschöpft haben wollen. Sie behaupten nämlich, die Päpste hätten nicht die Absicht, über Streitfragen der Theologen ein Urteil abzugeben, daher müsse man auf die frühesten Quellen zurückgreifen und die neueren Erlasse und Entscheide des Lehramtes nach den Schriften der Alten zu erklären.
444 Das mag vielleicht den Anschein einer klugen Behauptung erwecken, entbehrt jedoch nicht der Verfänglichkeit. Es stimmt allerdings, daß die Päpste den Theologen im allgemeinen die Freiheit lassen bezüglich jener Streitfragen, worüber die Gelehrten von Ruf verschiedener Meinung sind; die Geschichte lehrt jedoch, daß mehrere Fragen, die vormals der freien Erörterung unterstanden, späterhin gar keine Erörterung mehr zulassen können.
445 Ebenso wenig darf man annehmen, was in den Enzykliken vorgelegt werde, fordere an sich keine Zustimmung, da die Päpste in diesen Schreiben nicht die höchste Gewalt ihres Lehramtes ausüben. Sie sind nämlich Verlautbarungen des ordentlichen Lehramtes, von dem das bekannte Wort ebenfalls gilt: Wer euch hört, der hört mich (Luk. 10,16); sehr häufig gehört das, was die Enzykliken lehren und einschärfen, schon anderweitig zum katholischen Lehrgut. Wenn die Päpste in ihren Akten über eine bislang umstrittene Frage ein ausdrückliches Urteil fällen, dann ist es für alle klar, daß diese nach der Absicht und dem Willen derselben Päpste nicht mehr der freien Erörterung der Theologen unterliegen kann.
446 Es stimmt auch, daß die Theologen stets auf die Quellen der göttlichen Offenbarung zurückgreifen müssen: ihre Aufgabe ist es nämlich, aufzuzeigen, auf welche Weise die Erklärungen des lebendigen Lehramtes in der Heiligen Schrift und in der göttlichen Überlieferung „entweder ausdrücklich oder miteinbegriffen sich vorfinden (Pius IX., Inter gravissimas 1870). Zudem enthalten beide Quellen der von Gott geoffenbarten Lehre so viele und so große Wahrheitsschätze, daß sie niemals ganz ausgeschöpft werden können. Deshalb strömen der theologischen Wissenschaft aus den heiligen Quellen stets jugendliche Kräfte zu, während hingegen eine Spekulation, welche die weitere Erforschung des Glaubensgutes vernachlässigt, erfahrungsgemäß unfruchtbar wird. Aus diesem Grunde kann jedoch auch die sogenannte positive Theologie nicht der rein historischen Wissenschaft gleichgestellt werden. Denn zugleich mit jenen heiligen Quellen hat Gott seiner Kirche das lebendige Lehramt geschenkt, um auch das zu erhellen und zu enthüllen, was im hinterlegten Glaubensgut nur dunkel und sozusagen miteingeschlossen enthalten ist. Und zwar hat der göttliche Erlöser dieses Glaubensgut weder den einzelnen Christgläubigen, noch selbst den Theologen zur authentischen Auslegung anvertraut, sondern einzig und allein dem Lehramt der Kirche. Wenn aber die Kirche dieses ihr Amt ausübt, wie es im Verlauf der Jahrhunderte oft geschehen ist, entweder durch ordentliche oder durch außerordentliche Amtswaltung, so ist es offenbar eine durchaus falsche Methode, Klares aus Dunklem erklären zu wollen; ja, es ist sogar offensichtlich, daß alle den entgegengesetzten Weg befolgen müssen. Als daher Unser Vorgänger unsterblichen Andenkens, Pius IX., darlegte, die vornehmste Aufgabe der Theologie bestehe darin, nachzuweisen, wie die von der Kirche definierte Lehre in den Quellen enthalten sei, fügte er nicht ohne schwerwiegenden Grund jene Worte hinzu: „in demselben Sinne, wie sie die Kirche definiert hat“. –
aus: Anton Rohrbasser, Heilslehre der Kirche, Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., 1953, S. 262 – S. 264
siehe dazu auch den Beitrag: Pius XII. über Lehrfehler bezüglich Lehrschreiben