Vererbung sittlicher Anlagen
In der Lebensgeschichte des hl. Emmerich erweist sich eine Erfahrung, welche man auch in zahllosen Familien an allen Orten machen kann, nämlich die: Es vererbt sich sehr oft der religiöse und sittliche Zustand der Eltern auf die Kinder, so daß diesen schon eine Anlage oder eine besondere Geneigtheit zu dem angeboren wird, was in den Eltern besonders ausgeprägt war. Emmerich hatte nicht nur einen Heiligen zum Vater, sondern auch Kaiser Heinrich, der gleichfalls heilig gesprochen wurde, war sein nächster Verwandter. Wir finden dies auch bei vielen andern Heiligen, daß ihre Väter oder Mütter selbst heilig oder doch höchst gottselig gewesen waren, und daß die frühen Anzeichen eines heiligen Lebens sehr oft nicht von der Erziehung, sondern nächst der Gnade Gottes von angeborenen Anlagen kamen. Jahrelange Übung der Tugend, z. B. der Mäßigkeit, der Sanftmut, der Bescheidenheit, der Andacht üben nämlich auf das Gesicht, so auch auf die ganze leibliche Natur des Menschen auf geheimnisvolle Weise einen veredelnden Einfluss, der sich oft auch auf die Kinder vererbt und ihnen dadurch eine Geneigtheit und Leichtigkeit zu den nämlichen Tugenden angeboren wird.
Das Gleiche gilt aber auch von dem Bösen. Unkeusche Menschen, Säufer, Zanksüchtige, Arbeitsscheue, Hoffärtige haben nicht selten Kinder, welche sich den gleichen Lastern ergeben, selbst dann, wenn die Eltern so früh wegsterben, daß die Kinder nicht durch Erziehung und Beispiel derselben erst verdorben worden wären. Zwar bleibt auch den Kindern, die von lasterhaften Eltern abstammen, immer noch die Freiheit des Willens, so daß sie dem Bösen widerstehen können, aber wegen der angeborenen Geneigtheit haben sie schwerer und mehr gegen die Versuchung zu kämpfen, was eben zahllos Viele nicht tun und deshalb im Laster versinken. Daher sagt auch der Herr im alten Testament: „Ich werde die Sünden der Väter im dritten und vierten Glied noch strafen“, eben weil die Nachkommen gewöhnlich geneigt sind, im breit getretenen Weg des Lasters ihrer Vorfahren zu bleiben.
Alle Eheleute und Solche, die sich zu verehelichen gedenken, sollten daher wohl bedenken, daß sowohl das Gute als das Böse, was sie sich angewöhnen, auch auf ihre künftigen Kinder sich oft überträgt, indem sich eine tugendhafte oder lasterhafte Stimmung und Geneigtheit gern auf die Nachkommen vererbt. Schon die Rücksicht auf die Kinder muss daher den Menschen von Ausschweifungen abhalten und antreiben, einen wohl geordneten sittlichen Wandel zu führen. –
aus: Alban Stolz, Legende oder der christliche Sternhimmel, Bd. 4 Oktober bis Dezember, 1872, S. 217 – S. 218