Evangelista und Agnes, die gottseligen Kinder der hl. Franziska von Rom (10. März)
Die hl. Franziska, von welcher am gestrigen Tag erzählt worden, hatte eben das 20. Jahr erreicht, als ihr von Gott ein Sohn geschenkt wurde. Noch an demselben Tag wurde er getauft und erhielt den Namen Johannes Evangelista. Kaum der Wiege entwachsen, war es ihm die größte Freude, nach irgend einer Kirche mitgenommen zu werden oder einem Dürftigen Almosen reichen zu dürfen, zumal armen Ordensleuten, für welche er ganz besondere Vorliebe hatte. Franziska sah mit unbeschreiblicher Wonne auf den liebenswürdigen Kleinen. Er galt ihr für einen Engel Gottes, und Tränen der Freude füllten ihre Augen, wenn sie die außerordentlichen Zeichen der Gnade, in welchen er täglich mehr und mehr erblühte, sinnend betrachtete. Übernatürlich, wie die Tugenden der Mutter gewesen, waren nun auch die Eigenschaften des Kindes.
Evangelista war nicht ganz drei Jahre alt, als seine Schwester Agnes geboren wurde, die an Schönheit, himmlischer Sanftmut und früh gereifter Frömmigkeit genau das Ebenbild des Bruders werden sollte.
Mit noch größerer Sorgfalt als über den Bruder wachte die Mutter jetzt über das Mägdlein; auch nicht einen Augenblick wich sie von demselben und erfüllte an ihm die Pflichten einer Magd sowohl als einer Mutter. Sie lehrte es Jesus aufs höchste, mehr noch als die Eltern, lieben und unterhielt es mit Schilderungen von den anbetungswürdigen Vollkommenheiten des lieben Heilandes. Sie ermahnte es, im Stillschweigen sich zu üben, zu fest gesetzten Stunden sich mit Handarbeit zu beschäftigen, und ließ es fleißig in dem Leben heiliger Jungfrauen und Märtyrer lesen. Mit herz und Sinn kam Agnes ganz und gar den Wünschen der Mutter entgegen; und so in jeder Hinsicht vollkommen war ihr Betragen, daß sie allgemein von denen, die sie kannten, als die kleine Heilige oder der kleine Engel bezeichnet wurde.
Nach einigen Jahren brach in Rom eine pestartige Seuche aus. Da vernahm Franziska eines Morgens, auch ihr Liebling Evangelista sei von ihr befallen und dem Tode nahe. Der Knabe war damals sieben Jahre alt. Kaum hatte er die ersten Spuren der Ansteckung an sich bemerkt, als er nach einem Beichtvater verlangte. Er zweifelte gar nicht, daß seine letzte Stunde gekommen sei, und auch sie glaubte es. Don Antonio eilte zu dem Bett des Knaben; dieser beichtete, ließ dann die Mutter rufen, faßte sie an der Hand und richtete an sie etwa folgende Worte:
„Liebe Mutter, ich habe dir oft gesagt, Gott werde mich nicht lange bei dir lassen, er werde mich in die Gesellschaft seiner Engel aufnehmen. Ich darf dich nicht weinen sehen. Freue dich vielmehr mit deinem Kind; sieh, da stehen ja vor mir meine beiden Fürsprecher, die hll. Antonius und Vauplerius. Sie kommen, mich mit sich hinweg zu nehmen. Teuerste Mutter, ich werde für dich beten. Evangelista wird dich lieben im Himmel, wie er hier auf Erden dich geliebt hat, und auch du wirst kommen, wohin er geht.“
Der sterbende Knabe blieb ein paar Minuten ohne Regung, dann fuhr plötzlich ein Lichtstrahl über sein Antlitz, seine Züge waren wie verklärt. Verzückung leuchtete aus seinen Augen. „Da sind“, rief er, „da sind die Engel, die mich hinauf tragen. Gib mir deinen Segen, Mutter! Trauere nicht. Nie werde ich dein vergessen. Gott segne dich und den teuren Vater und alle, die zu diesem Haus gehören. Gepriesen sei der Name des Herrn!“ Dann kreuzte er die kleinen Arme über die Brust,s ein Haupt sank zurück; ein letztes Lächeln spielte über seine Lippen, und der jugendliche Geist schwebte auf zu dem Land der endlosen Wonne.
Ein rührendes Ereignis, ganz geeignet, das Herz Franziskas zu erfreuen, fand an demselben Tag in einem Nachbarhaus statt. Ein kleines Mädchen, das lange Zeit gefährlich krank gelegen und keinen Laut hervor zu bringen vermochte, erhob sich plötzlich in demselben Augenblick, da Franziskas Sohn verschied, in ihrem Bett und rief, offenbar in einem Zustand der Verzückung, mit lauter Stimme mehrmals aus: „Seht, o seht, wie schön! Evangelista Ponziano geht in den Himmel und zwei Engel mit ihm.“ Den sterblichen Überresten des Knaben öffnete sich die Familiengruft in der Kirche der hl. Cäcilia in Trastevere. Ein Grabstein wurde errichtet mit der einfachen Inschrift: „Hier liegt Evangelista Ponziano“; darüber sein Bild mit tief niederwallendem Gewand.
Es war ungefähr ein Jahr vergangen, seitdem Evangelista gestorben. Sein Bild war dem herzen der Mutter immer nah; sie sah ihn im Geist zu den Füßen des Heilandes. Zwar fühlte sie nie auch nur den leisesten Wunsch in sich aufsteigen, daß er aus der Wohnung der Seligen, in die er eingegangen war, wieder herab kommen möge auf die Erde, auf der es durch seinen Tod für sie um so vieles öder geworden. Doch konnte sie auch nicht einen Augenblick des innig geliebten Kindes vergessen und hörte nicht auf, ih als ihren Genossen der seligen Geister anzurufen, die seit lange schützend ihren Weg umschwebt hatten. Ihr Glaube und ihre Ergebung wurden reichlich belohnt. Gott ließ sie ihren Sohn im Himmel sehen und sandte ihn ihr zu, um sie in Kenntnis zu setzen von einem außerordentlichen Erweis der Gnade, wie er wohl selten einer von den Töchtern Adams zu teil ward. Franziska betete eines Morgens vor ihrem Hausaltar, da sah sie das kleine Zimmer plötzlich von einer übernatürlichen Helle erleuchtet: zu beiden Seiten stand neben ihr eine Lichtgestalt, deren Strahlenglanz nicht bloß ihre äußeren Sinn, sondern die tiefsten Tiefen ihres Wesens zu durchdringen schien und ein Gefühl der Wonne in ihr weckte, wie sie es nie empfunden hatte. Sie erhob ihre Augen, und vor ist stand Evangelista; er war durchaus derselbe, wie er früher um sie gespielt hatte, aber seine Züge waren verklärt und leuchteten in unnennbarem Glanz.
Neben ihm erschien ein ähnlich gestaltetes Wesen von derselben Größe, jedoch um vieles schöner; es war ein Erzengel. Franziskas Lippen bewegten sich, aber einen Laut hervor zu bringen war sie nicht imstande: zu sehr war sie ergriffen von Schrecken und Freude zugleich. Ihr Sohn tritt näher und grüßt sie, indem er mit einem himmlischen Ausdruck von Hochachtung und Liebe das Haupt vor ihr neigt. Da tritt das Mutterherz in seine Rechte. Franziska vergißt alles um sich her und sieht nur ihren Sohn; sie streckt die Hände nach ihm aus, aber es ist nichts Irdisches da, was sich fassen und halten ließe; der strahlende Leib entzieht sich ihren Armen. Dann ermutigt sie sich, und in gebrochenen Lauten ruft sie mit zitternder Hast: „Bist du es wirklich, mein Herzenskind? Woher kommst du? Wo wohnt und weilet ihr? Engel Gottes, warst du eingedenk der Mutter und des armen Vaters? Unter den Freuden des Paradieses hast du der Erde dich erinnert und ihrer Leiden?“
Evangelista blickte gen Himmel mit einem Ausdruck von Frieden und Freude, wofür es keine Worte gibt; dann aber sah er unverwandt die Mutter an und sprach: „Meine Wohnung ist bei Gott; unsere einzige Beschäftigung ist die Betrachtung der göttlichen Vollkommenheiten – dieser unerschöpflichen Quelle der Seligkeit. Ewig mit Gott vereint, haben wir keinen andern Willen als de seinigen; vollkommen ist unser Friede, wie Gottes Wesen unendlich vollkommen ist. Er selbst ist unsere Freude, und diese Freude kennt keine Grenzen. Ich meinesteils habe unter den Freuden des Paradieses nicht einen Augenblick deiner vergessen, habe aller gedacht, die mir hier auf Erden teuer waren. Ich wußte, daß du meinen Verlust mit Geduld erträgst, aber ich wußte auch, daß dein herz sich freuen werde, wenn du mich noch einmal wiedersähest, und Gott hat es mir erlaubt, dir diese Freude jetzt zu bereiten. Aber ich habe noch etwas bei dir auszurichten. Mutter! Gott verlangt von dir Agnes; sie soll nicht lange mehr bei dir weilen; im neuen Jerusalem ist ihr ein Platz bereitet. Tröste dich oder freue dich vielmehr, daß deine Kinder, aller Gefahr entrückt, im Himmel wohnen werden.“
Evangelista blieb noch eine Weile im Gespräch mit der Mutter, bot ihr dann ein zärtliches Lebewohl und verschwand; der Erzengel aber blieb und war ihr immer sichtbar bis zu ihrem Tod.
Franziska hatte die Absicht gehabt, die kleine Agnes Gott ganz in einem Kloster zu weihen. Aber nicht für das Kloster, sondern für den Himmel nah Gott ihre Tochter in Anspruch; und die wenigen tage, welche sie noch auf Erden bei ihr zubringen sollte, hegte sie die Kleine mit einer Zärtlichkeit, die mit Ehrfurcht gemischt war; konnte sie in ihr doch jetzt nur mehr ein Wesen sehen, das kaum noch dieser Erde angehörte, deren kalter Tiefe es so bald entrückt werden sollte. Und nicht lange dauerte es, da erging es dem erwählten Kind Gottes gleich einer Blume in fremder Lust: sie welkte hin; sie gab der armen Mutter ihren letzten Kuss und ein letztes Lächeln, dann ging die liebe Seele zu dem geliebten Bruder hinüber. Dasselbe Grab nahm ihren Leichnam auf. –
aus: Franz Hattler SJ, Katholischer Kindergarten oder Legende für Kinder, 1911, S. 154 – S. 158