P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
Göttliche und sittliche Tugenden
Wie werden die christlichen Tugenden eingeteilt?
In göttliche und sittliche Tugenden.
1. Die göttlichen Tugenden sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Diese heißen göttliche Tugenden, weil sie nicht bloß unmittelbar von Gott herkommen, sondern sich auch unmittelbar auf Gott beziehen. Auch die anderen christlichen Tugenden kommen unmittelbar von Gott her; als übernatürliche Kräfte oder Fähigkeiten werden sie alle in der hl. Taufe zugleich mit der heiligmachenden Gnade in unsere Seele eingesenkt oder eingegossen. Aber nur die drei göttlichen Tugenden beziehen auch unmittelbar auf Gott. Sie allein haben Gott selbst und seine unendlichen Vollkommenheiten unmittelbar zum Gegenstand. Wir glauben an Gott, an sein Dasein und seine Vollkommenheiten; wir hoffen auf Gott, ihn selbst hoffen wir ewig zu besitzen und in ihm unsere Glückseligkeit zu finden; Gott selbst endlich ist es, den wir lieben mit jener heiligen Liebe, die durch den Hl. Geist in unsere herzen ausgegossen ist. Allerdings haben diese drei Tugenden nicht Gott allein und ausschließlich zum Gegenstand; denn wir glauben auch andere Heilswahrheiten, wie die Auferstehung der Toten, das letzte Gericht, die Ewigkeit der Höllenstrafen u.a.m.; wir hoffen nicht nur einst Gott zu besitzen, sondern auch jetzt die Verzeihung unserer Sünden und die notwendigen Gnaden zu erlangen; wir lieben nebst Gott auch den Nebenmenschen; allein immer bleibt es wahr, daß Gott der erste und vorzüglichste Gegenstand unseres Glaubens, Hoffens und Liebens ist, und daß wir alles übrige glauben, hoffen und lieben mit Rücksicht auf Gott. (S. Thom., L. 3. sent. d. 26. q. 2. a. 2) Wir glauben nämlich die übrigen Heilswahrheiten als solche, durch die sich Gott uns geoffenbart; wir hoffen die Vergebung der Sünde und die göttliche Gnade als Mittel, die zum Besitz Gottes führen; wir lieben den Nebenmenschen als Kind und Ebenbild Gottes.
Gott ist aber nicht bloß der erste und unmittelbare Gegenstand unseres Glaubens, unserer Hoffnung und unserer Liebe, er ist auch der eigentliche und einzige Beweggrund besagter Tugenden. Denn wir glauben an Gott einzig und allein, weil er die ewige, unfehlbare Wahrheit ist; wir hoffen auf Gott, weil er unendlich mächtig, gütig und in seinem Versprechen getreu ist; wir lieben endlich Gott, weil er in sich selbst unendlich gut und liebenswürdig ist. –
In doppelter Hinsicht also beziehen sich die drei göttlichen Tugenden unmittelbar auf Gott selbst: er ist ihr unmittelbarer Gegenstand und ihr eigentlicher Beweggrund. Das ist nicht der Fall bei den sittlichen Tugenden, wie wir sogleich sehen werden.
2. Sittliche Tugenden heißen diejenigen, welche unser sittliches Betragen so ordnen, wie es Gott wohlgefällig ist. Solcher Art sind alle christlichen Tugenden mit Ausnahme der eben besprochenen drei göttlichen Tugenden. Dieselben unterscheiden sich von den göttlichen hauptsächlich dadurch, daß der unmittelbare Gegenstand derselben nicht Gott selbst, sondern unser sittliches Verhalten, die Erfüllung irgend einer von Gott uns auferlegten Pflicht ist, sei es, daß sich dieselbe auf Gott, auf den Nächsten oder auf uns selbst bezieht. So hat z. B. die Tugend der Gerechtigkeit zum Gegenstand die Heilighaltung der Rechte des Nebenmenschen; sie macht uns geneigt, daß wir jedem geben und lassen, was ihm von rechts wegen gebührt. Die Mäßigkeit ist auf die Bezähmung der bösen Begierden gerichtet, der Starkmut auf die Überwindung der Schwierigkeiten, die uns bei der Sorge für unser Seelenheil in den Weg treten. Ähnlich ist es bei den übrigen sittlichen Tugenden. (1)
Ein anderer Unterschied zwischen den göttlichen und sittlichen Tugenden besteht darin, daß bei den letzten der unmittelbare Beweggrund nicht notwendig Gott selbst, sondern bald die Schönheit der betreffenden Tugend, bald die Hässlichkeit des entgegen gesetzten Laster ist. (2)
Wie die christliche Tugend ihrem Gegenstand nach in göttliche und sittliche, so wird sie ihrem Ursprung nach in eingegossene und erworbene Tugend eingeteilt. Der Ausdruck „eingegossene“ Tugend ist der Hl. Schrift entlehnt (Röm. 5, 5) und bezeichnet die christliche Tugend, insofern sie in der hl. Taufe als eine übernatürliche Fähigkeit der Seele von Gott mitgeteilt wird. Erworben heißt die christliche Tugend, wenn jene übernatürliche Fähigkeit zu einer Fertigkeit im Guten, einer Art guten Gewohnheit geworden ist, so daß wir sie mit einer gewissen Leichtigkeit üben. Es verhält sich nämlich mit der christlichen Tugend ähnlich wie mit einer natürlichen Kunst, z. B. der Malerkunst. Wer ein Maler werden soll, muss zunächst eine gewisse Anlage dazu haben. Ohne alle Anlage zum Malen würde man es nie zu einer Tüchtigkeit darin bringen. Die Anlage aber allein genügt noch nicht; dieselbe muss ausgebildet werden, und das geschieht durch lange und fleißige Übung. Genaus so ist mit der christlichen Tugend. Es bedarf dazu erstens einer besonderen Anlage und zweitens der Ausbildung dieser Anlage. Da die christliche Tugend etwas Übernatürliches ist, so reicht die natürliche Anlage zum Guten nicht hin. Gott muss uns eine übernatürliche Anlage oder Fähigkeit dazu geben, und tatsächlich gibt er uns dieselbe zugleich mit der heiligmachenden Gnade in der Taufe. Wenn wir dann zu den Jahren der Vernunftgekommen sind, müssen wir diese übernatürliche Anlage ausbilden, indem wir uns mit Hilfe der göttlichen Gnade beharrlich im Guten üben. So wird dann die in der Taufe eingegossene Tugendanlage zu einer erworbenen Tugend, einer Fertigkeit im Guten. (siehe auch den Beitrag: Worin besteht die christliche Tugend)
Anmerkungen:
(1) Selbst die Tugend der Gottesverehrung hat nicht Gott selbst zum unmittelbaren Gegenstand, sondern seine äußere Ehre, also etwas Geschöpfliches.
(2) Die drei göttlichen Tugenden sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Sie heißen göttliche Tugenden, weil sie sich unmittelbar auf Gott beziehen. Gott selbst ist es ja, an den wir glauben, und es ist seine Allwissenheit und Allwahrhaftigkeit, weshalb wir glauben; Gott selbst ist es, auf den wir hoffen, und es ist seine Allmacht, Güte und Treue, weshalb wir hoffen; Gott selbst ist es, den wir lieben, und es ist seine unendliche Güte und Vollkommenheit, weshalb wir ihn lieben. –
Alle andern Tugenden heißen sittliche Tugenden, weil sie sich zunächst auf unsere Sitten beziehen; sie bewirken, daß wir in unserm sittlichen Verhalten klug, gerecht, mäßig, keusch, demütig, geduldig, starkmütig usw. sind, kurz, daß wir gute Sitten haben. –
aus: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Ein Hilfsbuch für die Christenlehre und katechetische Predigt, 2. Band Lehre von den Geboten, 1912, S. 374 – S. 376