Ein Wiedersehen am jüngsten Tag

Es ist auch das Wiedererkennen am jüngsten Tag

Das Wiedererkennen am jüngsten Tag wird ein ganz allgemeines sein, so daß nicht bloß diejenigen, welche auf Erden persönlich gekannt haben, sondern alle ohne Ausnahme einander kennen. Dies bezweifeln hieße das allgemeine Gericht bestreiten.

„Es grünt ein stiller Acker,
Drauf keine Ähren stehn,
Doch wird der Herr der Welten
Dort selber ernten gehn.
Dann sammelt er den Weizen,
Und gibt die Spreu dem Wind,
Und einet die Geschiednen,
Die gut geblieben sind.“
(Julius von der Traun.)

Am Ende der Zeiten wird der ewige Richter alle Entschlafenen versammeln, um vor ihnen und seinen Engeln seine Gerechtigkeit zu offenbaren, um die Guten zu verherrlichen und die Bösen zu beschämen. Dann wird er das verborgene Verdienst und die verkannte Unschuld zu Ehren bringen, die geheimsten Gedanken und alle Werke der Finsternis ans Licht ziehen, der Heuchelei und der Verstellung die gleisnerische Maske abreißen, Lüge und Hinterlist aufdecken, Tücke und Verrat an den Pranger stellen. Die Gottlosen wird er überführen und ihnen ihre Sünden vor Augen halten (Ps 49, 21), die Gerechten aber für alles erlittene Unrecht und Ungemach entschädigen. Alle müssen vor seinem Richterstuhl offenbar werden (2. Kor. 5, 10), damit alle einander nach ihrem Werte erkennen und beurteilen und insgesamt den Richterspruch des Menschensohnes bestätigen. Nach der Meinung des heiligen Thomas von Aquin (S. Theol. Suppl. q. 81. aa.1.2.3), wird ein jeder mit einem Male nicht nur sein eigenes Gewissen, sondern die Herzen aller wie ein aufgeschlagenes Buch lesen. Das Weltgericht ist die großartigste Rechtfertigung der göttlichen Weltregierung vor Himmel und Erde.

Dann wird an den verstockten Pharisäern die Drohung des Herrn in Erfüllung gehen: „Eure Kinder werden eure Richter sein“ (Matth. 12, 25); auch die bußfertigen Niniviten und die gläubige Königin des Ostens werden jenes ungläubige Geschlecht richten. (ebd. 12, 41f) „Wisset ihr nicht,“ fragt der Apostel, „daß die Heiligen die Welt richten werden?“ (1. Kor. 6, 2f) Und die zwölf Apostel werden bei der Wiederkunft des Herrn, wenn er auf dem Throne seiner Majestät sitzt, auch auf zwölf Stühlen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. (Matth. 18, 18) Wer aber alle richten soll, muss auch alle kennen.

Das ist das Wiedererkennen der Auserwählten und der Verworfenen. Welch ein Wiedersehen der Apostel und ihrer Verfolger, der Märtyrer und ihrer Peiniger, des Gotteslammes selbst und seiner gottlosen Feinde: des herzlosen Verräters, der falschen Zeugen und Ankläger, der gotteslästerlichen Hohenpriester und Pharisäer, der ungerechten Richter und der grausamen Henker! „Merke Dir mein Angesicht!“ sprach Eulalia von Emerita, die gefeiertste Märtyrin Spaniens, zu Calpurnian, dem Präfekten von Lusitanien; „merke Dir mein Angesicht, daß, wenn wir vor den Richterstuhl meines Herrn Jesu Christi treten, Du mich an jenem Tage wieder erkennest und die schuldige Vergeltung empfangest.“ (Gams, Kirchengeschichte Spaniens, 1865. Bd. I, S. 367) Wie müssen vor dem Wiedererkennen bei jenem Gerichte, „welches das Dunkel des Verborgenen erhellen und die Anschläge der Herzen ans Licht bringen wird“ (1. Kor. 4, 5), besonders diejenigen erzittern, welche unter dem Deckmantel der Freundschaft Verrat üben, unter dem Scheine des Rechtes unrecht tun, jene „reißenden Wölfe in Schafskleidern“, jene ehrlosen „Ehrenmänner“, jene „übertünchten Gräber“, jene Verbrecher im Tugendgewande, jene scheinheiligen Pharisäer!

Vergegenwärtigen wir uns im Geiste diese furchtbare Szene !

Über die Maßen schrecklich schon ist das Erwachen der Gottlosen beim Schalle der Gerichtsposaune. Die Gerechten stehen auf zu einem neuen Leben in ewig blühender Jugend und Schönheit, die Verworfenen zu einem Leben, das in der hl. Schrift der „zweite Tod“ genannt wird, also schlimmer ist als der erste Tod samt der Verwesung, da sie ewig leben, um ewig zu leiden.

„Nicht ist der Tod das Schlimmste, sondern leben und
Nicht sterben dürfen, während man den Tod begehrt.“ (Sophokles, Elektra)

Was erregt mehr Grauen als ein in der Verwesung begriffener Leichnam? Hiernach kann man sich das Entsetzen vorstellen, mit dem die unglückliche Seele in den Leib zurückkehrt, der jetzt noch häßlicher und entstellter ist, als da er im Grabe vermoderte. Sie weigert sich, ihn, den einstigen Gefährten, den sie mit so zärtlicher Liebe und Sorge gepflegt und so oft zu schnöder Lust gemißbraucht hat, als den ihrigen anzuerkennen; sie schaudert, sie sträubt sich, sie weicht entsetzt zurück und will entfliehen, aber von unsichtbarer, starker Hand wird sie festgehalten und hineingetrieben in diesen schauerlichen Kerker voll Modergeruch, um ewig darin zu wohnen. Wie qual- und martervoll ist für sie das Bewusstsein, daß sie eine solche Wohnung sich ausgewählt und bereitet hat. Welche Schmach ferner, daß sie ihre Torheit vor aller Welt offenbaren muss und durch ihre grauenhafte Hässlichkeit in ihrer ganzen Umgebung Schrecken und Abscheu verbreitet. „Es wird geschehen, daß jeder, der dich sieht, zurückweicht von dir.“ (Nah. 3, 7) Wohin immer diese wandelnde Leiche ihre Schritte lenkt, flieht man entsetzt zurück, wie vor einem grausigen Ungeheuer. Welch ein Wiedersehen der Verworfenen, die einander nicht ansehen mögen, die unter Angst- und Wutgeheul auseinander rennen wollen, aber von höherer Gewalt zusammen gehalten werden! So ernten sie Verderben, weil sie „auf das Fleisch gesät“ (Gal. 6, 8), wohingegen die Gerechten durch den gegenseitigen Anblick ihrer entzückenden Schönheit sich ergötzen und den Lohn genießen dafür, daß sie „auf den Geist gesät“, „das Fleisch aber samt seinen Gelüsten gekreuzigt“ haben. Jene müssen immerfort klagen: „Zur Verwesung sage ich: mein Vater bist du, und zu den Würmern: ihr seid mir Mutter und Schwestern.“ (Job 17, 14) Dieses nimmer aufhörende Sterben, dieses Verwesen bei lebendigem Leibe: welch ein furchtbarer und zugleich wunderbarer Zustand!

Noch größer aber erscheint die Schmach der Verworfenen, wenn wir bedenken, daß ihre leibliche Missgestalt und Hässlichkeit nur ein Bild ihrer inneren Verunstaltung und Schändlichkeit ist. Als tierische Leiber wurden die Leiber der Verdammten gesät, noch tierischer, gröber, plumper und widerlicher werden dieselben am jüngsten Tage wieder erscheinen, obschon auch sie eine gewisse Umwandlung erfahren werden. Sie werden vergeistigt nach dem Ebenbild der teuflischen Geister; denn nur ein solcher Leib ist die angemessene Behausung einer Seele, die dem Satan gedient hat. Schon beim besonderen Gerichte hat die Seele des Gottlosen das Brandmal ewiger Verwerfung und Schande empfangen. Denn dort erkannte sie sich zum ersten Male, wie sie von dem Allwissenden stets erkannt ward, nach ihrem wahren Werte oder vielmehr Unwerte, in ihrer ganzen Blöße und Hässlichkeit. Welche Beschämung für sie, dastehen zu müssen vor Gott, ihrem Herrn und Vater, als betrügerische Haushälterin, als nichtswürdige Verschwenderin seiner kostbaren Güter und nun ärmer, als der ärmste Bettler; vor Christus, ihrem Heilande, als Verächterin seiner blutgefärbten Siegesfahne und ehrloser als der ehrloseste Überläufer vor seinem Feldherrn; vor dem hl. Geiste, ihrem Bräutigam, als treulose Braut, als Buhlerin des Satans.

Indessen blieb die Schande, die der Verdammte auf sich geladen, vor den Augen der Welt einstweilen verborgen; sie ward mit ihm selbst in die Finsternis der Hölle begraben und hatte vorläufig nur die Mitverdammten und den allwissenden Gott zu Zeugen. Auf Erden aber steht sein Andenken vielleicht noch in Ehren; er hat dort Freunde, Genossen und Lobredner hinterlassen; auf dem Leichenacker, „wo die Toten liegen, und die Lebenden lügen“, erhebt sich vielleicht ein prunkvolles Denkmal über seinen Gebeinen, das auf glänzender Marmortafel in weithin leuchtenden Buchstaben seine Ehren, Würden und Titel, seine Großtaten und Verdienste den Überlebenden vor Augen führt; sein Name ist mit Glanz in die Geschichte eingetragen und dadurch für viele Jahre der Vergessenheit entrissen; selbst die zeitliche Unsterblichkeit, nach der allein er gestrebt und gerungen, mag ihm zu teil geworden sein, so daß er vielleicht bis zum Ende der Welt in der Erinnerung der Menschheit fortlebt.

Beim Wiedersehen am jüngsten Tag aber wird auch dieser letzte Schimmer von Ehre für immer erbleichen. Unerbittlich verzehrt das Gerichtsfeuer die elenden Werke, „Heu, Stroh und Stoppeln“, wie der Apostel sagt, so daß davon nichts übrig bleibt als ein Häufchen Asche; wie eine Seifenblase zerplatzt das Gaukelbild irdischen Ruhmes in nichts. Vor der ganzen Welt wird der Gottlose nun als Tor und Verbrecher gebrandmarkt, der Verachtung und dem Abscheu aller Guten und dem Gespött und Hohn seiner unglücklichen Schicksalsgenossen preisgegeben werden; er muss den Kelch der Demütigungen leeren bis zur Hefe. Schon an seinem Leibe als Feind Gottes gezeichnet und als solcher allen kenntlich, muss er nun auch sein Inneres mit allen Brand- und Schandmalen, mit dem ganzen Unrat von Niedertracht und Verruchtheit vor aller Augen bloß legen. –
aus: Wilhelm Schneider, Das andere Leben, Ernst und Trost der christlichen Welt- und Lebensanschauung, 1896, S. 285 – S. 288

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