Der Psalm 21 – Das Leiden des Messias
Im Psalm 21 spricht David (vielleicht zur Zeit schwerer Leiden) aus, was er durch den Heiligen Geist von den unsäglichen Leiden des Messias zu schauen gewürdigt worden, von welchem er selbst in seinen Leiden und Bedrängnissen nur ein schwaches Vorbild war.
Daß dieser Psalm messianisch ist, bezeugen schon die Evangelisten (1) und der hl. Paulus (2) sowie Christus, der Herr selbst (3). Das wird ferner durch die einmütige Überlieferung der älteren Juden sowie der katholischen Kirche bestätigt, und das ergibt sich auch aus dem Inhalt des Psalms selbst. Worte wie in Vers 7, 17-19 lassen sich nun einmal nicht anders als höchst gezwungen auf David, noch weniger auf irgend einen jüdischen König oder „auf den von Prüfungsleiden heimgesuchten Gerechten überhaupt“ beziehen; denn dem David wurden nie und nirgends die Kleider ausgezogen und unter die Peinige verteilt, nie und nirgends alle Glieder ausgerenkt, daß er fast keinem Menschen mehr glich; nie und nirgends war er auch zu dem äußersten Grad der tödlichen Erschöpfung, der in dem Psalm geschildert ist, gebracht und von Gott in den Nachstellungen der Feinde mit seinem äußeren Schutz, geschweige denn in der Überfülle der Schmerzen mit seinem inneren Gnadentrost verlassen worden. Im bildlichen Sinn aber für große äußere und Seelenleiden kämen die Ausdrücke nur hier vor und wären sonderbar und übertrieben.
Die zur Beseitigung der messianischen Erklärung von den späteren Juden ersonnene und von Neueren angenommen Deutung, wonach der Psalm die Leiden des Volkes Gottes schildern soll, ist ebenso unmöglich wie in der verwandten Schilderung des leidenden „Knechtes Gottes“ bei Isaias (52, 13 bis 53, 12). Denn einmal sind die Züge der Leidensschilderung so individuell, daß sie auf ein kollektivisches Subjekt nicht passen, und dann stellt sich der Leidende und Gerettete ausdrücklich „seinen Brüdern“ und der „großen Gemeinde“ gegenüber (wie beim Propheten Isaias), ist also von dieser als Einzelsubjekt zu unterscheiden. (4)
An Jesus dagegen sind die Schilderungen des Psalmes buchstäblich und in derselben Reihenfolge erfüllt: die Todesangst am Ölberg und in der schrecklichen Nacht, das Vergehen und Verschmachten besonders bei der grausamen Geißelung und am Kreuz, die blutdürstige Menge, die ihn umgab, das Durchbohren seiner Hände und Füße, das Ausrenken seiner Glieder, die Verspottung des nackt am Kreuz Hängenden, die Verteilung seine Kleider, sein klägliches Rufen am Kreuz. Auch die Folgen dieses Leidens, die im letzten Teil des Psalms hervorgehoben sind, nämlich die Verherrlichung des Leidenden, die Verkündigung des Namens Gottes und die Verbreitung seines Reiches durch ihn über den ganzen Erdkreis, das geheimnisvolle, allen zugängliche und für alle so segensvolle Opfermahl, lassen keine Anwendung auf David oder „den Gerechten überhaupt“ zu.
Mein Gott, mein Gott,
warum hast du mich verlassen?
Fern von meinem Heil sind die Worte meiner Sünden! (5)
Mein Gott, ich rufe des Tages, und du erhörst nicht;
des Nachts, und nicht zur Torheit mir (6).
Du aber wohnst im Heiligtum, Preis Israels!
Auf dich vertrauten unsere Väter,
vertrauten, und du erlösest sie.
Zu dir riefen sie und wurden errettet;
auf dich vertrauten sie und wurden nicht zu Schanden.
Ich aber bin ein Wurm und nicht ein Mensch,
der Menschen Spott, des Volkes Hohn.
Alle, die mich sehen, spotten mein,
verziehn die Lippen, schütteln das Haupt:
„Er hoffte auf den Herrn, der rette ihn,
erlöse ihn, weil er ihn ja liebt!“
Ja, du bist es, der mich hervorzog aus der Mutter Schoß,
meine Hoffnung von den Brüsten meiner Mutter an!
Dir bin ich übergeben vom Mutterschoß an;
vom Schoß meiner Mutter an bist du mein Gott!
O sei nicht fern von mir;
denn die (Todes-) Not, sie ist so nah; weil keiner ist, der hilft.
Umgeben haben mich gar viele Rinder,
fette Stiere haben mich umringt.
Sie sperren wider mich den Rachen auf,
gleich reißenden und brüllenden Löwen (7).
Wie Wasser bin ich ausgeschüttet,
und ausgerenkt sind all meine Gebeine.
Geworden ist mein Herz wie schmelzend Wachs in meinem Leib.
Vertrocknet ist wie eine Scherbe meine Kraft,
und meine Zunge klebt mir an dem Gaumen,
und in den Staub des Todes hast du mich gebracht.
Denn mich umgeben viele Hunde,
der Frevler Schar umzingelt mich:
sie haben meine Hände durchbohrt und meine Füße,
All mein Gebein gezählt;
sie aber schauten her und sah’n mich an.
Sie teilten meine Kleider unter sich
und warfen über mein Gewand das Los.
Doch du, o Herr, entferne deine Hilfe nicht von mir,
sieh doch auf meine Rettung!
Erlöse von dem Schwert (8), o Gott, meine Seele,
und aus des Hundes Klauen mein Einziges (9).
Errette mich doch aus des Löwen Rachen,
und aus den Hörnern der Einhörner (10) meine Niedrigkeit.
Dann will ich deinen Namen verkünden meinen Brüdern (11),
inmitten der Gemeinde will ich dich preisen.
Die ihr den Herrn fürchtet, lobt ihn;
alle Kinder Jakobs, preiset ihn!
Ihn fürchte aller Same Israels;
denn nicht verachtet` noch verschmähte er das Fleh`n des Armen;
nicht wandte er sein Angesicht von mir,
und da ich zu ihm schrie, erhört` er mich.
Dir gilt mein Lob in der großen Gemeinde;
meine Gelübde (12) will ich erfüllen im Angesicht derer, die ihn fürchten,
Gespeist, gesättigt werden die Bedrängten, (13),
und den Herrn werden preisen, die ihn suchen;
ihre Herzen werden leben in alle Ewigkeit.
Es werden sich erinnern (14)
und wieder zu dem Herrn sich wenden alle Enden der Erde;
und anbeten vor seinem Angesicht alle Völker.
Denn des Herrn ist das Reich,
und er wird herrschen über die Heiden.
Es essen und beten an alle Starken der Erde,
vor seinem Angesicht fallen nieder alle, die dem Tod verfallen.
Und meine Seele wir ihm leben (15),
und mein Geschlecht ihm dienen.
Dem Herrn wird angekündigt ein kommendes Geschlecht (16),
und verkünden wird man seine Gerechtigkeit
dem Volk, das geboren wird, das geschaffen hat der Herr.
Anmerkungen:
(1) Mt. 27, 35; Joh. 19, 24; vgl. Mt. 27, 39 u. 43.
(2) Hebr. 2, 11.
(3) Mt. 27, 46.
(4) Die bei den Vätern beleibte Deutung der Psalmen auf Christus und die Kirche betont die Einheit des Leibes mit dem Haupt, unterscheidet aber genau zwischen dem, was nur vom Haupt, und dem, was ex persona membrorum gesagt ist. Vgl. S. Thom. Aq., S. th. 3, q. 15, a. 1. Der hl. Augustinus stellt (Tract. 28 in Ioann.) die Regel auf: Christus totus in capite et in corpore. Quod ergo membra eius, ipse; quod autem ipse, non continuo membra eius.
(5) Das Geschrei meiner Sünden, d.h. der Sünden der Welt, die ich auf mich genommen, verhindert meine Rettung vom Tod.
(6) Nicht zur Torheit wird es mir gereichen, d.h. ich werde doch Erhörung finden; oder nach anderen: nicht um meiner Torheit = Sünden willen, sondern wegen der Sünden anderer. Doch ist hier der hebräische Text vorzuziehen, welcher lautet: „des Nachts, und nicht wird Ruhe mir“; ich rufe Tag und Nacht, d.h. immer dar, ohne Erhörung zu finden. Der Unterschied liegt in der verschiedenen Lesung eines einzigen hebräischen Wortes.
(7) Störrige und reißende Tiere dienen häufig als Bilder zur Veranschaulichung heftiger Leidenschaften; hier bezeichnen sie, wie in Vers 17 ausdrücklich gesagt wird, die „Rotte der Bösewichte“, die den unschuldig Leidenden quälen und verspotten.
(8) Daß dieser Ausdruck hier nicht wörtlich, sondern nur im allgemeinen, vom gewaltsamen Tod, zu verstehen ist, sehen wir daraus, daß in demselben Sinn so viele und verschiedene andere bildliche Ausdrücke, wie: Farren, Stiere, Hunde, Löwen, Einhörner gebraucht sind.
(9) D. i. mein Kostbarstes, mein Leben.
(10) Das im Hebr. Als re`em bezeichnete Tier ist weder ein mythisches noch der Büffel u. dgl., sondern ein Wildochs (Wisent), dessen Namen und Bild man jetzt auf assyrisch-babylonischen Monumenten gefunden hat, und der noch jetzt im Kaukasus wild vorkommt. Er gilt als Tier von unbezähmbarer Kraft und Wildheit (vgl. Dt. 33, 17; Jb 39, 9ff); auf diesen Vergleichungspunkt allein kommt es an, nicht auf die zoologische Beschaffenheit. –
Die Übersetzung „Einhorn“ geht auf die Septuaginta zurück und hat zu mancherlei abenteuerlichen Vorstellungen und Erklärungen geführt, die aber den Kernpunkt der Sache nicht berühren. Sage, Kunst und Symbolik haben sich des rätselhaften Tieres bemächtigt. Die Sage lässt das Einhorn jeden Menschen, dem es begegnet, töten, nur Jungfrauen verschont es und lässt sich sogar von ihnen fangen. Die Symbolik deutete deshalb das sonst unzähmbare Tier auf die göttliche Allmacht, die im Schoß einer Jungfrau Mensch geworden. Auf Grund jener poetischen Sage wurde es zugleich zum Symbol der Jungfräulichkeit und in dieser Eigenschaft das Attribut heiliger Jungfrauen. Meist ist es als Sinnbild der Kraft, oft auch als Sinnbild der Einsamkeit verwertet, weil es einsam in Wildnissen leben sollte. So findet es sich im Bischofsstab des hl. Bonifatius, im Wappen des Klosters Fulda, im Wappen von England, von vielen Städten usw. Als Sinnbild Christi wird das Einhorn besonders in der sog. Jagd des Einhorns, einer bis zum Ende des Mittelalters in Kunst und Literatur beleibten Darstellung der Verkündigung Mariä verwertet. Vgl. Detzel, Christl. Ikonographie I, Freiburg 1894, 161.
(11) Triumphierend sagt nun der gottmenschliche Dulder die segensreichen Früchte seines Opfertodes voraus: seinen Brüdern, d. i. den Menschen, will er Gott (und sein heiliges Evangelium) verkünden.
(12) Gott wird er sein Gelübde- und Dankopfer darbringen, nämlich das heiligste Opfer des Neuen Bundes, die stete unblutige Erneuerung des blutigen Kreuzesopfers, die Eucharistie, d. h. das höchste Lob- und Dankopfer.
(13) An dem mit dem Opfer verbundenen Opfermahl (der heiligen Kommunion) sollen alle Anteil bekommen: die „Bedrängten“ und die „Starken“, Hohe und Niedere.
(14) Wenn der leidende Erlöser von Gott, seinem Vater, verherrlicht ist, wird die Scheidewand fallen zwischen Juden und Heiden; denn die ganze Erde, alle „Völker“ werden in das Reich Gottes kommen; vgl. die patriarchalische Verheißung.
(15) Der Erlöser selbst aber wird zum Lohn für seinen Opfertod in ewiger Herrlichkeit bei dem Vater leben und immer für uns Fürsprache einlegen (vgl. Is. 53, 11; Joh. 17, 5; Hebr. 7, 25; 8, 34), und seine Kirche wird Gott treu dienen.
(16) Eben die Erlösten werden ihm als seine Kinder gemeldet, und diesen wird man von der Gerechtigkeit Gottes erzählen, durch die sie gerettet und Kinder Gottes geworden sind. Der im lateinischen Text stehende Ausdruck „die Himmel werden verkünden“ ist, wie allgemein anerkannt, aus einer ähnlich lautenden Stelle (Ps. 96, 6) herüber genommen und passt hier weniger gut in den Zusammenhang. –
aus: Schuster/Holzammer, Handbuch der Biblischen Geschichte, Bd. I, Altes Testament, 1910, S. 734 – S. 738
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