Marianische Festreden zur Feier des Maimonats
v. Franz Xaver Weninger, S.J.
1. Mai Heilige Maria bitte für uns!
Vielgeliebte Kinder Mariä! Wir beginnen heute, nach Verlauf eines Jahres, wieder die Kundgebung unserer Hochverehrung Mariä, indem wir Ihr durch einen ganzen Monat täglich unsere besondere Huldigung, Bewunderung und Lobpreisung darzubringen; und desgleichen täglich unseren Dank für die durch Ihre Fürbitte erhaltenen Gnaden mit besonderer Wärme aussprechen; und Sie mit besonderem Vertrauen von neuem anrufen.
Wir flehen Sie um Ihre Fürbitte an, zur Erhaltung noch größerer und zahlreicherer Gnaden, aber zugleich geloben wir Ihr auch, dass wir dieselben im Geiste Ihrer wahren Kinder zu benutzen entschlossen sind.
So wird für unser Leben als Kinder Gottes der Monat Mai zum geistigen Frühlingsmonat, in welchem wir in Fülle den Samen der Tugenden in das Erdreich unseres Herzens streuen, auf dass derselbe aufgehe und Tugendfrüchte bringe, die da seiner Zeit in die Scheuern des Himmels von den Engeln getragen werden.
Meine Aufgabe und mein Verlangen ist es, zu diesem Ziel täglich ein Wort der Ermunterung an euch zu richten, und das in solcher Weise zu tun, daß die Erinnerung an das, was ich in dieser Beziehung zu sagen gedenke, so dauernd als möglich in euch verbleibe.
Ich habe daher in diesem Jahr zum leitenden Thema dafür jenes gewählt, welches ich als das geeignetste erachtete, um den Hauptgegenstand, dem ich den ersten Teil meiner Marien-Predigten geweiht, mit euch zu erwägen. Es ist dies die
Lauretanische Litanei.
In der Tat, da es die Kirche selbst ist, die uns diese Grüße auf die Zunge legt, so ist dies für uns im Voraus eine Versicherung, dass in denselben die Fülle des Lobes Mariä enthalten ist. Aber auch die Fülle der Beweggründe wird uns durch dieselben angedeutet, um Maria mit vollstem Vertrauen anzurufen und zugleich klar zu erkennen, welches vorzüglich der Gegenstand sein sollte, um dessen Gewährung wir zu Maria zu flehen haben.
Mit anderen Worten: Ich will erstlich in diesem Monat jeden der Grüße, welche die Kirche in ihrer Litanei an Maria richten, mit euch durchdenken und zeigen, wie reichlich Maria das Lob durch den Vorzug verdient, den die Kirche in Ihr anerkennt.
Zweitens, welch ein Beweggrund in jedem dieser Vorzüge liege, um uns mit Vertrauen zu Maria zu wenden.
Drittens aber, dass wir Sie, was den Gegenstand der Bitte betrifft, besonders um den Besitz jener Tugend anflehen, auf welche der Gruß an Maria selbst hinweist. Die Kirche beginnt diese ihre Grüße mit dem Zuruf:
„Heilige Maria, bitte für uns!“
Ja wohl, Kinder Mariä, bedenkt mit mir, mit wie vielem Grund die Kirche erstlich den Namen lobpreist, welcher der im Paradies verheißenen Tochter Evas zu Teil geworden, die da die Mutter des also im Paradies bereits verheißenen Erlösers werden sollte. Es liegt nämlich nach dem Zeugnis der hl. Schrift selbst im Namen, der den Kindern Gottes durch Gottes Anordnung beigelegt wurde, zugleich eine Hinweisung auf deren Beruf im Dienst Gottes.
Die Namen unserer Stammeltern selbst waren bezeichnend und von Gott gegeben. „Adam“ erhielt seinen Namen, um durch denselben auf die Schöpfung des Menschen hinzuweisen. „Eva“ erhielt ihren Namen, um die Fortpflanzung desselben anzudeuten. „Abraham“ wird so als Vater der Gläubigen und Stammhalter jenes Geschlechtes genannt, aus welchem Christus als Mensch seine Natur annehmen wollte. Ähnliches gilt von „Johannes“, dem Vorläufer Christi, und von „Petrus“, dem Statthalter Christi.
Und wie erst, wenn wir an Jesus selbst denken. Von diesem Seinem Namen bezeugt der Engel selbst, dass er im Himmel früher genannt, als auf Erden ausgesprochen worden. Und wie feierlich bezeugt Paulus von diesem Namen: „Er hat Ihn erhöht und Ihm einen Namen gegeben, auf dass im Namen Jesu sich jedes Knie beuge im Himmel, auf Erden und unter der Erde.“
So ist denn kein Zweifel, daß der Name Maria gleichfalls ein Name sei, der früher im Himmel als auf Erden genannt wurde; da Sie ja die Mutter Christi ist, und als solche neben Ihm den höchsten Thron der Gloria aller Engel und Heiligen einnimmt, auf dass in diesem Ihrem Namen sich beuge jedes Geschöpf im Himmel, auf der Erde und unter der Erde.
Dieser Name ist es auch, den der Engel sofort bei dem Beginn seiner Botschaft aussprach: „Gegrüßet seist Du, Maria!“ In Anbetracht dessen, was wir als unterrichtete Kinder der Kirche von Maria wissen, so hat die Kirche mit Recht zu erwarten, dass wir, so wie wir diesen Namen bei Beginn der Litanei nur andächtig aussprechen, auch sogleich mit den Anmutungen des Lobes und der tiefsten Verehrung Mariä erfüllt werden.
Zweitens erweckt der Name Maria aber auch Vertrauen in uns, um zu Maria in der ganzen Bedeutung des Wortes zu rufen: „Bitte für uns!“
Ich sage zum Beweis dessen, jeder Beweggrund, der uns mit Vertrauen erfüllt, daß jemand uns zu helfen bereit sei, erstrahlt ja vor unserer Seele, wenn wir den Namen Maria nennen.
Denn, wenn ich den Namen Maria nenne, so nenne ich die von Ewigkeit her erwählte Tochter des himmlischen Vaters. Nun frage ich, wenn Maria Gott den Vater für uns bittet, wird Er Ihre Bitte abschlagen, als Seiner von Ewigkeit auserwählten Tochter?
Wenn ich Maria nenne, so nenne ich die Mutter des Mensch gewordenen Sohnes Gottes. Wird Gott Sohn, der allmächtig ist, Seiner Mutter etwas abschlagen, um das Sie Ihn für uns bittet?
Wenn ich Maria nenne, so nenne ich die von Ewigkeit auserwählte Braut des hl. Geistes. Wird Gott der hl. Geist Maria etwas abschlagen, um das Sie Ihn für uns bittet?
Wenn ich Maria nenne, so nenne ich die Königin aller Engel. Wie mächtig ist jeder dieser hl. Engel! Und siehe da, auf einen Wink Mariä, ihrer Königin, sind sie alle bereit zu tun, was Sie wünscht und ihnen befiehlt.
Wenn ich Maria nenne, so nenne ich die Königin aller Heiligen. Wer weiß es nicht, wie mächtig die Fürbitte der verschiedenen Heiligen sich in den verschiedenen Bedrängnissen des Lebens erweist? Maria ist ihre Königin; o wie ist jeder derselben bereit, seine Fürbitte vor dem Thron Gottes mit der Ihrigen zu vereinigen.
Wenn ich Maria nenne, so nenne ich die Mutter meines Erlösers, der vom Kreuz aus mich Ihr als Kind übergab. Wenn ich Maria nenne, so nenne ich die Mutter der Barmherzigkeit, die Helferin der Christen, von der der hl. Bernard bezeugt: „Es ist unerhört, daß jemand, der zu Ihr seine Zuflucht nahm, von Ihr nicht wäre erhört worden.“
O wie vielen hat Sie in den Anliegen ihres Leibes und der Seele geholfen! Beweis dessen sind alle die zahllosen Wallfahrtsorte der katholischen Welt. Beweis dessen ist jedem seine eigene Erfahrung, der zu Maria im Geist eines wahren Kindes seine Zuflucht genommen.
Ja, wir haben alle Ursache, mit dem vollsten Vertrauen zu Ihr unsere Zuflucht zu nehmen, wenn wir Ihren heiligsten, mächtigsten Namen nennen. Heilige Maria, bitte für uns! Zugleich aber sagte ich:
Drittens, weist dieser Name auch nachdrücklich darauf hin, um was jedes wahre Kind Gottes die Fürbitte Mariä anflehen sollte. Dieser Gegenstand ist durch den Namen Maria selbst angegeben, nämlich: Maria, bitte für mich, daß ich vor allem die Gnade erlange, so zu leben, dass ich das Recht habe, nach Deinem Namen mich Dein wahres Kind – ein Kind Mariä nennen.
Was in dieser Beziehung das Wichtigste ist, darauf weist der erste Gnadenvorzug Mariä hin: nämlich ihre Unbefleckte Empfängnis. Es heißt, sich von allen Sünden reinigen. O tue es, Kind Mariä, besonders durch eine wahrhaft gültige Beichte, wenn du bisher Im Stande der Sünde gelebt. Du sollst jedenfalls den Monat Mai im Stande der heiligmachenden Gnade beginnen.
Das Zweite ist das Verlangen des Herzens, als wahres Kind Mariä auf dem Wege der christlichen Vollkommenheit nach dem heiligsten Willen Gottes voranzugehen.
O welch ein Gewinn für dich, Kind Mariä, wenn dieser Monat Mai besonders dazu beiträgt, dich völlig von aller Makel der Sünde zu reinigen, und dir einen bleibenden Hass gegen die Sünde einzuflößen, dass du in Zukunft vor jedem Schatten der Sünde zurückbebst und dein Herz rein bewahrst, auch von jeder Makel ganz freiwilliger lässlicher Sünde und Unvollkommenheit.
Aber auch, dass du zugleich in dir das Verlangen stärkst, durch den Beistand Mariä zur standesmäßigen Heiligung deines Lebens zu gelangen.
Kinder Mariä, Gott gebe euch diese Stimmung des Herzens durch die Fürbitte Mariä in diesem Gnaden-Monat – Amen.
Beispiel. Aussprüche der hl. Väter
Worte bewegen, Beispiele ziehen, – sagt ein altes Sprichwort. Die Erfahrung der ganzen Welt bestätigt es. So will ich euch denn durch diesen Monat Mai täglich ein Beispiel vor Augen stellen, der durch die ganze Welt, vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne seit den Zeiten der Apostel von den Gläubigen geübten Hochverehrung Mariä, und euch von den wunderbaren Beweisen Ihrer Macht und Fürbitte erzählen.
In dieser Beziehung weise ich zuerst hin auf den Einklang der Väter, sowohl der morgenländischen wie der abendländischen Kirche, in Bezug auf diese Hochverehrung Mariä. Das göttliche Offizium zu Ehren der unbefleckten Empfängnis Mariä, von Pius IX. veröffentlicht, weist selbst darauf zur Genüge hin. Mit solchen Lobsprüchen hat die menschliche Zunge nie etwas so hoch gefeiert und bewundert, als wie diese heiligen Väter der ersten Christenheit Maria lobpriesen.
Hören wir zum Beweis dessen nur einen aus den vielen – nämlich des hl. Chrysostomus. Er sagt: „Was könnte wohl je Größeres und Herrlicheres sich vorfinden oder erdacht werden als Maria, die Himmel und Erde so weit überragt. Was könnte es Heiligeres geben wie Sie? Nicht die Propheten, nicht die Apostel, nicht die Märtyrer, nicht die Patriarchen, nicht die Engel, nicht die Thronen und Herrschaften, nicht die Cherubim und Seraphim. – Nichts Höheres gibt es unter allen erschaffenen, sichtbaren und unsichtbaren Wesen, als Maria.“ – Aber auch, was die Gnaden-Erweisungen Mariä zu Heil der Menschen betrifft und die Macht ihrer Fürbitte nachweist, so reden davon schon die Väter der ersten christlichen Jahrhunderte.
Bekannt ist es, mit welchem wunderbaren Erfolg der hl. Gregor der Große mit dem Volk in öffentlicher Prozession die Hilfe Mariä erlangte. Aber auch was einzelne Personen betrifft, so erzählt derselbe Gregor folgendes Ereignis:
Es lebte nämlich zu seiner Zeit eine Jungfrau, mit Namen Musa, die eine sehr große Andacht zu Maria hatte und deshalb auch gottesfürchtig lebte. – Allein es drohte ihr die Gefahr, von leichtfertigen und weltlich gesinnten Freundinnen, mit denen sie Bekanntschaft hatte, verführt zu werden und das Leben der Frömmigkeit aufzugeben.
Da erschien ihr eines Tages Maria in Begleitung von vielen Heiligen und sprach zu ihr: Musa, willst du diesen Heiligen folgen. Musa versetzte darauf, sie sei bereit, es mit Freuden zu tun. Darauf antwortete Maria: Dann musst du dich von deinen Gefährtinnen trennen und dich wohl vorbereiten; denn in einem Monat werde ich wieder kommen.
Da zog sich Musa von dem Umgang mit jenen weltlich gesinnten Personen und von allem Umgang mit Menschen zurück.
Sowie nun der 30. Tag herankam, wurde sie sterbenskrank. Maria erschien ihr von neuem und nannte sie bei ihrem Namen. Da erwiderte Musa: Hier bin ich, meine Königin; siehe, ich komme! Mit diesen Worten gab sie sanft ihren Geist auf, und folgte Maria und den Heiligen in die selige Ewigkeit.
Kinder Mariä, warum erzähle ich euch heute gerade dieses Beispiel? Ich antworte: Wir begannen ja soeben den schönen Monat Mai. Was kann ich anderes wünschen, als dass jede Seele denselben so zu ihrem Heil benütze, als sie es tun würde, wenn sie wüsste, dass Maria am Ende des Monats zu ihr käme, um sie, wenn sie denselben so gut als möglich benützt, mit sich in den Himmel zu nehmen.
Doch sei es auch, dass du noch viele Jahre lebst, wenn dieser Monat deine Liebe und Andacht zu Maria vermehrt und dieselbe bis an das Ende andauert, so kommt doch einst Maria; Sie holt sich ab von deinem Sterbebett, und auch du wirst Ihr zurufen: O meine Königin und Mutter, siehe – ich komme! – Amen! –
aus: Franz Xaver Weninger SJ, Originelle kurzgefasste praktische Marianische Fest-Reden zur Feier des Maimonats, 1882, S. 1 – S. 8
siehe auch weitere Beiträge von F. X. Weninger, Die Unfehlbarkeit des Papstes