Das Rosenkranzgebet – ein wirksames Mittel zur Befolgung der Gnade Gottes und zur Erlangung der Seligkeit
Auszug aus einer Marienpredigt von Antonio Vieira SJ
Zum vollkommenen und gründlichen Verständnis dieses Vorzuges müssen wir es nicht bloß als eine zuverläßliche Lehre, sondern auch als einen, von vielen Kirchenversammlungen ausgesprochenen, Glaubenssatz voraussetzen, daß zur Beobachtung eines jeden göttlichen Gebotes (und noch mehr – aller Gebote) eine doppelte Mitwirkung nötig ist: eine von Seiten Gottes, und eine von Seiten des Menschen. Von Seiten Gottes die Einwirkung seiner Gnade, von Seiten des Menschen die Einstimmung seines freien Willens; – so, daß weder die Gnade Gottes in uns – ohne unsern freien Willen, noch unser freier Wille – ohne die Gnade Gottes – für uns kräftig genug sind, um (wenn wir auch wollten) die Gebote Gottes zu beobachten.
Vernehmt, was der heilige König sagte, indem er mit Gott redet: Deine Satzungen will ich halten (Psalm 118,8); doch um was ich dich bitte, damit ich dieses vermöge, es ist dieses: du mögest mich nicht verlassen. Der heilige König spricht wie der Meister eines heiligen Thomas und Augustinus; denn wenn Gott uns auf irgend eine Weise verläßt und uns mit seiner Gnade nicht beisteht, dann werden wir, wenn wir auch seine Gebote halten wollten, sie doch keineswegs zu halten vermögen. Und der Grund ist: die Beobachtung der Gebote Gottes und die Erlangung der ewigen Seligkeit ist ein übernatürliches Werk. Und mag auch der freie Wille sich mit allen Kräften der Natur vereinigen: es muss die Gnade von oben herab kommen. Jetzt werdet ihr, Hochverehrte, einsehen, wie angemessen und entsprechend Christus sein Gesetz – ein Joch nennt (Matth. 11, 29.30); er sagt: es sei süß, aber ein Joch.
Doch wenn ein Jeder von uns dieses Gesetz, wenn ein Jeder die Gebote desselben beobachten und halten muss, – wie kann es ein Joch sein? Das Joch hat diesen Namen, weil es Zwei (Es ward auf den Hals zweier Ochsen gelegt) zugleich tragen; doch wenn ich die Bürde des Gesetzes allein trage, – wie kann es für mich ein Joch sein? Gott verbindet in mir seine Gnade mit meinem freien Willen, und der freie Wille und die Gnade vereint, sie sind es, die das Joch des Gesetzes tragen.
Das beste Beispiel, welches jemals ein Gottesgelehrter zur Erklärung dieser Lehre gefunden, war jene Erscheinung, womit die heiligste Jungfrau unsere Lehre nicht bloß erklärte, sondern sichtbar vor Augen stellte. Es wurde in Rom jene Epistel gesungen, welche den Vorfall enthält, als der Apostel Philippus den Kämmerer der Königin von Äthiopien bekehrte; und es wohnte der heiligen Messe ein anderer Philippus an, der nachher auch apostolischer Sendbote war, und jetzt „heiliger Philippus Benitius“ genannt wird. Bei den Worten, die der Engel zu dem Apostel sprach: Philippus, geh hin und nähere dich dem Wagen (Apostelg. 8,29): (es war der Wagen, worin der Kämmerer reiste), da wurde Philippus Benitius verzückt und sah Maria gleichsam triumphierend auf einem goldenen Wagen, den ein Lamm und ein Löwe zogen. Die Absicht der Erscheinung war: Philippus sollte in den Orden der „Servi di Maria“ (Anm.: Servitenorden) treten.
Der Umstand aber, welcher die erhabene Erscheinung noch wunderbarer und geheimnisvoller macht, es sind die Tiere, von denen der Triumphwagen der Mutter Gottes gezogen wird. Es ist dieses wundersam, daß es bloß zwei Tiere sind, die ziehen; wundersam, daß sie von verschiedener Gattung, und noch wundersamer, daß es ein Lamm ist und ein Löwe. Sollte nicht wenigstens das Lamm, – ein weibliches Schaf und der Löwe eine Löwin sein, – damit die Ähnlichkeit des Geschlechts sie leichter am Joch vereine? Keineswegs. Der Wagen, auf welchem Gott und die Mutter Gottes über die Menschen triumphieren und sie (wie in diesem Falle) zu ihren Dienern machen, – es ist der Gehorsam gegen seine Gebote, und es ziehen bloß zwei Tiere und zwar von verschiedener Gattung daran; das Lamm, welches die Gnade, und der Löwe, der den freien Willen der Menschen sinnbildet. –
Der stolzeste, wildeste, übergebieterische, ungezähmteste Löwe, der aufgewachsen unter den Ungeheuern Libyens, und da gekrönt worden, – es ist der freie Wille des Menschen; der ist so stolz und so gebieterisch, daß er, wie Pharao, zu Gott sprechen kann: Ich will nicht. Allein wer demütigt diesen Stolz, wer zähmt diese Wildheit, wer bewältigt dieses pochende Gebieten und herrschen? Die Gnade. Die Gnade, als ein sanftes Lamm, sänftigt seine Wut; die Gnade, als ein demütiges Lamm, mäßigt seinen Stolz; die Gnade, als ein zahmes Lamm, bricht seinen wilden Übermut; die Gnade, als ein gehorsames Lamm, bewirkt, daß er gehorcht, und sich das Joch auflegen läßt.
Was war Saulus anderes, als ein entfesselter, zorniger, wütiger Löwe, der schon mit seinem Gebrüll der ganzen Herde Christi Schrecken einflößte? Saulus schnaubte Drohung und Mord gegen die Jünger des Herrn (Apostelg. 9,1) Doch wer bändigte diesen so stolzen Löwen? Wer beugte ihn? Wer sänftigte seine Wut? Wer wandelte ihn, – wer schuf ihn zu einem andern Menschen um, wer legte ihm das Joch auf, als er so gewaltig widerstrebte, so hartnäckig sich widersetzte? Er spricht es selbst aus: Nicht ich allein, sondern die Gnade Gottes mit mir (1. Kor. 15,10). Und sobald sich die Wirksamkeit mit der Freiheit seines Willens verband, da wurde der Unbändige sogleich gebändigt, da der Widerspenstige sogleich überwunden, und aus dem Lamm und dem Löwen wurde ein so gleiches Paar, das die Mutter Gottes für sich und ihren göttlichen Sohn dazu wählen konnte, um über die Menschen obzusiegen.
Nehmet jetzt den Rosenkranz in die Hand und betrachtet ihn, und sagt mir, was er euch mehr vorstellt und sinnbildet. Mit Zaum und Gebiss, so sprach der heilige König zu Gott, – bezwinge die Backen derer, welche dir nicht nahen (Psalm 31,9); lege ihnen, die sich von dir entfernen und das Joch des Gesetzes nicht auf sich nehmen wollen, einen Zaum an und zieh ihnen die Zügel an; denn sie werden, so widerspenstig, so hartnäckig sie auch seien, den Nacken biegen. Doch wer anders, als der Rosenkranz, bringt diese Wirkung hervor? Gott selbst spricht dieses durch den Mund des Propheten aus: Vermöge meines Ruhmes will ich dich umzäunen, daß du nicht zu Grunde gehest (Isai. 48,9). Ich sehe, dein freier Wille, widerspenstiger und wilder, als der Löwe und das entzäumte Roß, stürzt dich ins Verderben; aber ich will dir einen Zaum anlegen, um nicht zu sinken und den Untergang zu finden, und dieser Zaum wird kein anderer sein, als der meines Lobes. –
Da wirst du sehen, was ich für dich getan, wirst die vielfache Verbindlichkeit erkennen, die du gegen mich hast, – wirst einmal und vielmals mich loben und preisen für so erhabene, göttliche Wohltaten; und wofern du mein Lob in deinem Munde hast (und das tun wir beim Rosenkranz-Gebet), so wird dieses dich im Zaum halten, um mich nicht zu beleidigen, und stets auf dem Wege meiner Gebote zu wandeln (S. Thom. Aquin. ibi). So beherrscht denn das Lob Gottes, welches bei dem Rosenkranz angestimmt wird, die Freiheit sanft und wirksam, zähmt die Wildheit des freien Willens und unterwirft ihn dem göttlichen Gesetze.
Doch wodurch wird ihm die Gnade zu Teil werden, die Gnade, ohne die er den rechten Weg nicht zu wandeln, noch das Joch zu tragen vermag? Eben durch den Rosenkranz. Die heiligste Jungfrau wird im hohen Liede „ein Brunnen lebendiger Wasser“ genannt; und das ist der Brunnen der Gnade. Allein dieser Brunnen ist gar tief, gar tief; und wir (so wird Mancher sagen), wir haben nichts, womit wir schöpfen, wie das samaritanische Weib zu Christo sprach (Hohel. 4,15): Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfest (Joh. 4,11) und der Brunnen ist tief (Vgl. Andrichomius und andere über diese Überlieferung). So sprach jenes Weib, insofern sie denjenigen, mit welchem sie sprach, nicht kannte; und sie hatte zum Teil Recht; denn dort war der Rosenkranz noch kurz und hatte bloß das erste Drittel; nachdem aber, als Christus alle übrigen Geheimnisse vollbrachte, und Maria ihren ganzen Rosenkranz vollkommen gestaltete, da sind, (seht, ob das Bild entsprechend ist) da sind, sowie ihr am Rosenkranz ein Körnchen um das andere nehmet und „gegrüßt seist du Maria, voll der Gnaden“ betet, – diese Körnchen die Eimer, womit ihr aus dem so tiefen Brunnen das Wasser der Gnade schöpfet.
In Ägypten besteht heute zu Tage noch ein Brunnen, der den Namen „Jesubrunnen“ hat, weil der Knabe Jesus und Maria und Joseph auf ihrer Flucht daraus getrunken. Und da der Brunnen sehr tief ist, so wird das Wasser mittelst eines Radeimers geschöpft. Dasselbe tun wir mittelst des Rosenkranzes, insofern er ein kunstreiches Werkzeug zu einem zweifachen, höchst wichtigen Zwecke ist: er ist ein Zaum, – um den freien Willen zu bezähmen; er ist ein Radeimer, um die Gnade zu schöpfen. –
aus: Antonio Vieira SJ, Sämmtliche Marienpredigten, Zweiter Teil, 1860, S. 312 – S. 316
Bildquellen
- the-rosary-1766404_640: pixabay