Das Wesen der christlichen Hoffnung – eine göttliche Befähigung
Wie schön und erhebend ist doch die Großmut, mit welcher der kleine Cyrill alles Zeitliche und Vergängliche, das väterliche Haus und Vermögen, das Feuer und und Schwert verachtet, und seine Begeisterung, mit welcher er von dem Himmel spricht und nach dem Besitz der ewigen Seligkeit verlangt! Siehe, diese Seelengröße ist die köstlichste Frucht der christlichen Hoffnung, welche auch du von Gott empfangen hast. Betrachte oft:
1. Das Wesen der christlichen Hoffnung. Sie ist von Seite Gottes eine uns eingegossene Tugend, eine göttliche Befähigung, vermöge deren wir von Gott alles Gute um der unendlichen Verdienste Jesu willen zuversichtlich erwarten, wie Er es uns verheißen hat: sie ist von unserer Seite das feste, standhafte, sehnsüchtige Erwarten dessen, was uns Gott verheißen hat. Diese göttliche Gnade ist ein Taufgeschenk der hochheiligen Dreieinigkeit, für das wir ohne Unterlaß danken sollten, ausrufend mit dem hl. Petrus: „Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung, durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten!“ (1. Petr. 1) Daß die christliche Hoffnung eine besondere Gnade Gottes sei, davon kannst du dich täglich mit deinen eigenen Augen überzeugen. Wäre sie ein Erzeugnis des Menschen, eine Frucht seines Nachdenkens und Forschens, so müssten ja die Gelehrten die größte und festeste Hoffnung haben; aber gerade das Gegenteil ist wahr. Schon das Sprichwort sagt: „Je gelehrter, desto verkehrter.“ Die Aufgeklärten haben meistens gar keine Hoffnung, wollen von Gott und seinen Verheißungen nichts wissen oder halten es für das Anständigste, ganz davon zu schweigen. Wäre die christliche Hoffnung nun ein Werk der Menschen, so müssten doch die Geizigen gewiß eine sehr starke Hoffnung haben; denn diese haben viel zu wenig, und brauchen schlechte Mittel, um zeitlichen Besitz zu erlangen; aber für Gott und seine Verheißungen haben sie gewöhnlich gar kein Interesse. Nein, die christliche Hoffnung ist keine Frucht menschlicher Kraft und Klugheit; sie findet sich auch nur in denjenigen Christen, welche sie als eine besondere Gnade Gottes dankbar anerkennen und als ein unverdientes Geschenk Gottes hoch schätzen. Das freudige Hochschätzen dieser Gnade, das sehnsüchtige Vertrauen und Warten auf die göttliche Verheißung ist dann allerdings Sache des Menschen und schöpft seine Nahrung und seine Stärke aus der mehr und mehr klaren Erkenntnis dessen, was uns Gott verheißen hat.
2. Dieser Inhalt der christlichen Hoffnung ist unbeschreiblich groß und herrlich; er umfaßt die ewige Seligkeit der Seele und des Leibes in der Anschauung und im Genuss des dreieinigen Gottes und in den überschwänglichen Gnadenmitteln, um diese Seligkeit gewiß zu erlangen, also: Verzeihung der Sünden, die heiligmachende Gnade, die besonderen Standesgnaden und die Gnade der endlichen Beharrlichkeit. Aus dieser Hoffnung schöpfte der kleine Cyrill seine Begeisterung zum triumphierenden Heldenmut. Die Schönheit des Himmels und die Süßigkeit der ewigen Freuden riß seine glaubensinnige Seele los vom Irdischen und erfüllte sie mit übernatürlichem Sehnen nach der Anschauung Gottes. Die Erkenntnis der Güte und Fürsorge des himmlischen Vaters ließ ihn leicht verschmerzen die Härte und Grausamkeit des irdischen Vaters; die Gewissheit, daß der Allmächtige ihm Kraft und Sieg über alle Martern geben werde, gab ihm ein heiteres Lächeln über die ohnmächtigen Drohungen des kaiserlichen Statthalters. O studiere doch fleißig den Inhalt deiner Hoffnung, die in dein Herz eingegossen ist, und bete um die Erfüllung derselben! – aus: Otto Bitschnau OSB, Das Leben der Heiligen Gottes, 1881, S. 412