P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
Von der christlichen Tugend und Vollkommenheit
Soll es uns genug sein, daß wir uns von schweren Sünden und Lastern enthalten?
Nein, wir sollen uns auch Mühe geben, immer tugendhafter zu werden und zur Vollkommenheit zu gelangen. (1)
„Meide das Böse und tue das Gute.“ (Ps. 36, 27) Dieser Mahnspruch des Geistes der Weisheit enthält im Keime das ganze christliche Sittengesetz. Ihm zufolge soll sich der Christ keineswegs damit begnügen, sich vor der Sünde zu hüten, die sündhaften Neigungen, welche in seinem Herzen wurzeln, zu bekämpfen und auszurotten; er soll außerdem sich bestreben, die Tugend zu üben, immer mehr in derselben zuzunehmen und so das Ebenbild Gottes immer vollkommener in sich auszuprägen. Deshalb spricht der hl. Geist: „Wer gerecht ist, werde noch gerechter, und wer heilig ist, werde noch heiliger.“ (Offb. 22, 11) Und anderswo: „Scheue dich nicht, der Gerechtigkeit bis zum Tode dich zu befleißen.“ (Sir. 18, 22) Strebt ja doch jedes Wesen der sichtbaren Schöpfung, dem Zuge seiner Natur folgend, nach der ihm angemessenen Vollkommenheit; um wieviel mehr soll dies der Christ tun, zu dem gesagt ist: „Sei vollkommen, wie dein Vater im Himmel vollkommen ist!“ Mag daher auch jemand auf der Tugendbahn noch so weit fortgeschritten sein, so darf er doch nicht aufhören, nach dem Maße der ihm verliehenen Gnade stets weiter zu streben; er soll vielmehr mit dem Weltapostel sprechen: „Ich vergesse, was hinter mir ist, und strebe nach dem, was vor mir liegt!“ (Phil. 3, 12. 13)
Bei diesem unablässigen Ringen nach dem Höheren und Besseren hat aber jeder Christ auf die seinem Stand angemessene Vollkommenheit das Augenmerk zu richten. Denn ist auch die Vollkommenheit ihrem Wesen nach für alle Christen dieselbe, so ist doch der Weg, der dazu führt, und die Weise ihrer Betätigung je nach dem Stand, worin man lebt, sehr verschieden. Es bieten ja nicht alle Stände dieselben Mittel dar, zur Vollkommenheit zu gelangen, und nicht in allen Lebensverhältnissen können und sollen dieselben Tugenden auf dieselbe Weise geübt werden. Der Kartäuser oder Trappist z. B. soll seinem Stande entsprechend die Vollkommenheit zu erreichen trachten durch Meidung alles Verkehrs mit der Welt, durch strenges Stillschweigen, durch treue Beobachtung der evangelischen Räte und gewissenhafte Verrichtung aller Übungen des geistlichen Lebens, welche ihm seine Regel vorschreibt. Wollte nun aber jemand, der verheiratet ist oder sonst seinem Beruf gemäß mit der Welt zu verkehren hat, ganz das Gleiche tun, so würde er sich eben dadurch von der Vollkommenheit entfernen; er würde seinen Standespflichten nicht nachkommen, deren genaue Erfüllung doch einen wesentlichen Teil der christlichen Vollkommenheit ausmacht.
(1) … ohne Zweifel will der göttliche Gesetzgeber, daß seine Gebote beharrlich und vollkommen beobachtet werden. Was ist aber diese beharrliche und vollkommene Beobachtung im Grunde anderes als die Übung der christlichen Tugend und Vollkommenheit? Wer demnach vorhat, die Gebote Gottes, wie es zum Heil nötig ist, beharrlich zu beobachten, der muss auch mit allem Ernst nach gründlichen Tugenden streben; denn nur der Tugendhafte, nur der, welcher es in der Haltung der Gebote Gottes zur Fertigkeit gebracht hat, wird das göttliche Gesetz in allen vorkommenden Fällen treu erfüllen. – Von der christlichen Tugend unterscheidet sich die christliche Vollkommenheit dadurch, daß der Vollkommene das Gute nicht nur beharrlich, sondern auch auf eine vollkommene Weise übt. Reicht nun auch die pflichtschuldige Übung des Guten zum Seelenheil hin, so geziemt es doch auch für jeden Christen, daß er aus Liebe, Ehrfurcht und Dankbarkeit gegen Gott dessen Gesetz nicht bloß irgendwie, sondern auf eine vollkommene Weise zu erfüllen trachte. Wie nämlich ein liebendes Kind nicht zufrieden ist, die strengen Befehle der Eltern willig anzunehmen und pflichtgemäß zu vollziehen; wie es vielmehr sich alle Mühe gibt, auch jeden ihrer Winke treu zu befolgen und selbst ihren Wünschen zuvor zu kommen; ebenso soll der Christ sich befleißen, den Willen Gottes, seines besten Vaters und höchsten Herrn, auf eine möglichst vollkommene Weise zu erfüllen. Von dieser Vollkommenheit lehrt der hl. Thomas (3. Sent. d. 29. q. 1. a. 8. s. 2), der Christ sei nicht verpflichtet, dieselbe zu haben, er solle sich aber bestreben, sie zu erlangen.
Diese allen Christen gemeinsame Obliegenheit, nach der standesmäßigen Vollkommenheit zu streben, geht übrigens schon aus der Schuldigkeit hervor, die alle haben, nicht nur die schweren, sondern auch die läßlichen Sünden zu meiden. Denn gibt es in diesem sterblichen Leben keinen auch noch so vollkommenen Menschen, der niemals die geringste Sünde beginge (Trident., Sess. 6. cap. 10; S. August., De spiritu et lit. c. 36 et alibi); um wieviel weniger wird jener von aller Sünde sich frei bewahren, der nicht einmal sich bemüht, vollkommen zu werden! Wiewohl demnach der allgemeinen Lehre der Theologen gemäß das Streben nach christlicher Vollkommenheit nicht für alle bei Verlust der Seligkeit geboten ist, so folgt daraus doch keineswegs, daß es in keiner Weise geboten sei. Nur jene besonderen Mittel der Vollkommenheit, welche man evangelische Räte nennt, sind dem Christen insgemein nicht geboten, sondern bloß angeraten, da derselbe auch durch andere Mittel zu der seinem Stande angemessenen Vollkommenheit gelangen kann. (S. Cornelius a Lap. über Matth. 5, 48 und Chrysostomus, De vituperat. vitae monach. L. 3)
aus: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Ein Hilfsbuch für die Christenlehre und katechetische Predigt, 2. Band Lehre von den Geboten, 1912, S. 370-372