Zur Religionsgeschichte der Juden
Jude bezeichnet ursprünglich einen Angehörigen des Stammes Juda, später einen solchen des Reiches Juda (z. B. 2. Kg. 16, 6; 25, 25). Gewöhnlich aber versteht man darunter den nachexilischen Juden, einen, der zum Judentum gehört, d. i. auf dem Boden des Religionsgesetzes steht (im Gegensatz zu den Heiden). Von den deportierten 10 Stämmen des Reiches Israel hatten sich nämlich in Babylonien viele den unter Nebukadnezar fortgeführten 2 Stämmen des Reiches Juda angeschlossen, die andern verschwanden unter den Völkern. Die weitere Geschichte Israels wird darum a potiore parte als jüdische Geschichte bezeichnet. Der Name Israel kommt nur mehr im idealen Sinne als Volk Gottes vor.
Religionsgeschichte der Juden
Bildet das aus dem Zusammenbruch des israelitischen Staatslebens als Rest des Stammes Juda neu erstandene Volkstum, das als kosmopolitisches Element unter den Völkern sich angesiedelt hat, das nationale Element, die Judenheit, so pflegt man das einigende religiöse Element als Judentum zu bezeichnen. Im weitesten Sinne umfasst dieser Begriff den gesamten Lehr- und Gesetzesinhalt der Patriarchenzeit, des Mosaismus, Prophetismus und späteren jüdischen Schrifttums, im engeren und gewöhnlichen die Regeneration des Mosaismus seit Esdras und deren Fortentwicklungen: hellenistisches, sadduzäisches, pharisäisches, rabbinisches, karäisches, chassidisches, in neuerer Zeit orthodoxes und Reform- oder liberales Judentum.
1) Von Esdras bis zum Ende der Hasmonäer
Die Forderungen des durch Esdras und Nehemias organisierten neuen Staatswesens gingen auf Vollziehung des Gesetzes. Man sicherte es durch vielfache Umzäunung vor Übertretung. Aber die Zeitverhältnisse verlangten neue Bestimmungen. Sie suchte man aus dem mosaischen Gesetz abzuleiten und zu begründen. Es bildete sich ein Stand der Schriftgelehrten, die an der Weiterbildung solcher Bestimmungen arbeiteten. So entwickelten sich neben dem schriftlichen Gesetz (Thora) traditionelle Satzungen (Halacha), die nur mündlich fortgepflanzt und als mündliches Gesetz für gültig erklärt wurden. Diese Richtung mündete schließlich in den Pharisäismus.
2) Bis zum Abschluss der Mischna
In den Streitigkeiten (seit Hyrkanus I) mit den Sadduzäern erlangten die Pharisäer im Volk das Übergewicht, zumal aus ihrer Mitte die Gesetzeslehrer hervorgingen. Ihre Gesetzesbestimmungen wurden mehr und mehr die absolute, detaillierte Norm für die Lebensführung. Haarspaltende Kasuistik schuf eine Unzahl von Geboten und Verboten, das Nebensächliche wurde Hauptsache, der Geist des Gesetzes erstarb. Als nach dem Vespasianischen Krieg der letzte Rest staatlicher Selbständigkeit aufgehoben war und die Zerstreuung der Juden größer wurde, fixierte man die bisher nur mündlich überlieferten Satzungen schriftlich. Unter derartigen Sammlungen erhielt die von Jehuda I ha-Nasi redigierte Mischna kanonische Geltung. –
Die Bedeutung des hellenistischen (alexandrinischen) Judentums liegt mehr in seinem Schrifttum, dem 1. Versuch, das Judentum im Lichte philosophischer Forschung zu betrachten; auf die innere Entwicklung des Judentums hat dies keinen nachhaltigen Einfluss ausgeübt.
3) Bis zum Abschluss des babylonischen Talmuds (499)
Der Pharisäismus wurde für die Folgezeit eine geistige Macht. Diese Periode umfasst die Zeit der Amoräer, deren Arbeit im Talmud niedergelegt ist. Der babylonische Talmud erhielt dann eine größere Tragweite als der palästinensische, da er den Anforderungen der in den verschiedenen Ländern zerstreuten Juden mehr entsprach.
4) Bis Ende des 18. Jahrhundert
herrscht dann im Ganzen der strenge Rabbinismus vor, die starre Gesetzlichkeit und Tradition. Durch den Widerspruch der Schriftanhänger gegen die überlieferten Satzungen entwickelte sich im 8. Jahrhundert ein dauernder Seitenstamm des Judentums, die Karäer. Mit Ende des 12. Jahrhunderts beherrschte allmählich die Mystik die Gemüter; es machte sich mehr und mehr ein Gegensatz geltend gegenüber der philosophischen Richtung, während kabbalistische Umtriebe Auswüchse erzeugten. Im ganzen jedoch blieb das Alte in seiner strengen Konsequenz und vererbten Macht noch im 18. Jahrhundert.
5) Das moderne Judentum
Erst mit dem 19. Jahrhundert fing man an, aus der geistigen Abgeschlossenheit herauszutreten. Von Deutschland ging eine freie Geistesrichtung aus. Unter inneren Kämpfen schied sich zunächst ein streng orthodoxes von einem reformerischen Judentum.
a) Das orthodoxe (traditionsgläubige) Judentum,
welches das ganze überlieferte Religionsgesetz beibehält, basiert auf dem Glauben an die bleibende Verbindlichkeit des schriftlichen wie des mündlichen Gesetzes, welch letzteres seit Moses sich ununterbrochen bis auf die Mischnalehrer fortgeerbt habe, an die Auserwählung Israels als Priestervolks Gottes und damit an die einstige Wiederherstellung der Theokratie (Messiasidee im nationalen Sinne). Eine gedrängte Übersicht über die Glaubenslehre bietet Abr. Jagel (später Christ, †1620) in seinem hebräischen Katechismus Leqach tob (Gute Lehre).
Des Maimonides Fassung in 13 Artikel ist zum Glaubensbekenntnis geworden und ins Gebetbuch aufgenommen. Die wesentlichen Momente sind der Glaube an einen einig-einzigen Gott als Schöpfer und Regierer der Welt, an die Unsterblichkeit der Seele, Vergeltung, Auferstehung der Toten, Offenbarung (mit Tradition), Auserwählung Israels und Messiasidee. Albo reduzierte die 13 Artikel auf 3 (Gott, Vergeltung, Offenbarung), zu denen die übrigen sich wie Folgerungen verhalten.
Die Pflichtenlehre kennt außer den noch geltenden mosaischen Gesetzen auch rabbinische Vorschriften und Gebräuche. Sämtliche noch üblichen Zeremonial-Gesetze sind zusammengestellt im Ritualkodex Schulchan Aruch. Die Sittenlehre fußt im Allgemeinen auf biblischer Grundlage. Hauptvertreter der streng Orthodoxen war Samson Hirsch († 1888). In seiner Zeitschrift „Jeschurun“ trat er entschieden den Reformen entgegen mit der Tendenz, die Bedeutung des Religionsgesetzes zu einer lebendigen Erkenntnis zu bringen (vgl. seine „19 Briefe über das Judentum“, 1836 ö.) In „Choreb“ (1899) sucht er die einzelnen Gebote durch symbolische Erläuterungen zu beleben. Seine wissenschaftliche Vertretung hat das orthodoxe Judentum in dem 1872 von Isr. Hildesheimer († 1899) gegr. Berliner Rabbiner-Seminar (Organ: Magazin für die Wissenschaft des Judentums, seit 1883). –
b) Reform-Judentum
Die durch Mendelssohn vorbereitete geistige Emanzipation der Juden ließ die Institutionen des Judentums noch unberührt. Dagegen äußerte sich die durch Leopold Zunz († 1886) u.a. hervorgerufene Strömung in der Reform des praktisch-religiösen Lebens. Einzelne Gemeinden, z. B. der „Hamburger Tempelverein“ (gegr. 1818), vollzogen zunächst die Kultusformen selbständig (dtsch. Gebet, dtsch. Predigt, Orgel, Chorgesang, Konfirmation). Einheitliches Vorgehen in der zeitgemäßen Gestaltung des religiösen Lebens strebten dann die durch Ludwig Philippson († 1889) angeregten „Rabbiner-Versammlungen“ an.
Im Ganzen bildeten sich 3 Strömungen. Die freiere Richtung wollte auf historischer Grundlage fortentwickeln nach der Auffassung Abr. Geigers († 1874), der schonungslos alles aus dem Judentum zu entfernen suchte, was sich im Laufe der Zeit an den ursprünglichen Kern angesetzt habe. Sie ist vertreten an der 1872 gegr. „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ in Berlin (Organ: Jüd. Zschr. Für Wissenschaft u. Leben)
Eine extrem-radikale Richtung tat sich in Berlin 1845 als „Genossenschaft für Reform des Judentums“ auf. Samuel Holdheim gab ihr in seinen „Religionsprinzipien des reformierten Judentums“ ein wissenschaftliches Fundament, auf dem sie sich 1850 zur „Berliner Reformgemeinde“ ausbildete; sie behielt nur so viel vom Judentum bei, als eben noch genügt, um einem positiven Bekenntnis anzugehören. Als ihr Religionsbuch erschien 1857 die „Jüdische Glaubens- und Sittenlehre“ von S. Holdheim, worin noch die Kritik eine große Rolle spielt, und davon entlastet, 1889 als „Religionsbuch“ von H. H. Ritter u. 1892 „Die israelitische Religionslehre“ von M. Levin.
Eine gemäßigte Reform, im allgemeinen konservativ, aber den veränderten Zeitverhältnissen einige Zugeständnisse machend, vertrat Zacharias Frankel († 1875); auf diesem Standpunkt steht das 1854 eröffnete „Jüd.-theologische Seminar“ in Breslau (Organ: Monatsschr. Für Geschichte und Wissenschaft des Judentums). Diese Richtung hat unter den Rabbinern und Gemeinden die Oberhand gewonnen.
Die Bewegung, aus der Öde des Reform-Judentums zur positiven Religion zurückzukehren, scheint zu erstarken. Während die 1908 gegr. „Vereinigung des liberalen Judentums in Deutschland“ sich zu behaupten sucht, schloss sich das gesetzestreue Judentum 1912 in der „Aguddath Israel“ zu einer internationalen Einheitsfront zusammen. Sieht man von der radikalen Richtung ab, so bestehen Differenzen zwischen dem orthodoxen und dem Reform-Judentum darüber, wieweit das pentateuchische Gesetz heute noch verpflichtet, und hinsichtlich des traditionellen Gesetzes. Gemeinsam ist sämtlichen Juden der Ausblick auf die Zukunft, wo alle Völker durch Israels Beispiel zur reinen Gotteserkenntnis und Gottesverehrung gelangen sollen. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. V, 1933, Sp. 675 – Sp. 678
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