Apostolischer Brief
Testem benevolentiae nostrae
von Papst Leo XIII.
an den Erzbischof von Baltimore, Kardinal James Gibbons
Christliche Antwort auf die Doktrin des Amerikanismus
22. Januar 1899
Auszüge
Das Grundprinzip der neuen Anschauungen, von denen Wir sprachen, kann man etwa folgendermaßen formulieren: Um die Abtrünnigen leichter zur katholischen Wahrheit zurückzuführen, sollte sich „die Kirche der Menschheit, die nunmehr das Erwachsenenalter erreicht hat, besser anpassen, sie sollte ihre bisherige Strenge mildern und aufgeschlossener für moderne Bestrebungen und Theorien sein. Dabei soll dies Prinzip, wie viele meinen, nicht nur für die Lebensgestaltung gelten, sondern auch für jene Lehren, die in dem der Kirche hinterlegten Glaubensgut enthalten sind. Es wird in der Tat behauptet, dass es, um die verirrten Seelen zu gewinnen, angebracht sei, gewisse Lehren als weniger wichtig mit Schweigen zu übergehen oder so abzuschwächen, dass sie nicht mehr den gleichen Sinn haben, den die Kirche ihnen bisher zugeschrieben hat. – Es bedarf keiner langen Ausführungen, geliebter Sohn, um zu zeigen, wie sehr diese Auffassung zu verurteilen ist; es genügt, die Natur und den Ursprung der Lehre der Kirche in Erinnerung zu rufen. Das Vatikanische Konzil sagt dazu: „Die von Gott geoffenbarte Glaubenslehre wurde dem menschlichen Geist nicht wie ein weiter zu entwickelndes philosophisches System dargeboten, sondern als ein von Gott hinterlegtes Gut, das der Braut Christi anvertraut ist, die es treu bewahren und unfehlbar interpretieren muss … Der Sinn, den unsere Heilige Mutter die Kirche den geheiligten Dogmen einmal verliehen hat, muss für immer gewahrt bleiben, und es darf niemals davon abgewichen werden unter dem Anschein oder Vorwand, ihren tieferen Sinn besser zu erfassen (Const. De fide cath., c. IV.).
Man darf auch nicht glauben, dass man ohne Schuld bestimmte Prinzipien der katholischen Doktrin durch Schweigen bewußt umgehen und vergessen lassen kann. – Denn alle Wahrheiten, die in der christlichen Lehre enthalten sind, haben nur einen Urheber und Lehrer, den „eingeborenen Sohn, der am Herzen des Vaters ruht“ (Joh 118). Sie gelten für alle Zeiten und alle Völker, wie aus den Worten Christi selbst an seine Apostel klar hervorgeht: „Geht hin und lehret alle Völker … und lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe; und seht, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.“ (Mt 28,19-21). Daher sagt auch das Vatikanische Konzil: „Es ist alles zu glauben aufgrund göttlichen und katholisch-kirchlichen Glaubens, was im geschriebenen und überlieferten Worte Gottes enthalten ist und was die Kirche, sei es in Form feierlicher Definitionen, sei es aufgrund ihres ordentlichen allgemeinen Lehramtes, als von Gott geoffenbart zu glauben vorstellt.“ (Const. De fide cath., c. 111). – Man hüte sich also davor, von der von Gott empfangenen Lehre irgendetwas wegzunehmen oder auszulassen, aus welchem Grunde auch immer, denn derjenige, der es täte, würde eher die Katholiken von der Kirche trennen, als diejenigen zur Kirche zurückführen, die sich von ihr getrennt haben. Nichts liegt Uns mehr am Herzen, als dass sie zurückkehren, dass alle zurückkehren, die sich einmal aus dem Schafstall Christi verirrt haben – aber auf keinem anderen Wege als demjenigen, den Christus selbst vorgezeichnet hat.
Doch im Hinblick auf den Gegenstand, über den Wir mit Dir, geliebter Sohn, sprechen, ist die Ansicht der Neuerer noch weitaus unheilvoller und gefährlicher für die katholische Glaubens- und Sittenlehre. Sie meinen nämlich, man müsse in der Kirche eine gewisse Freizügigkeit einführen und ihre Oberhoheit und Aufsicht beschränken, damit die Gläubigen ihre eigene Initiative und Tatkraft frei entfalten können. Sie betonen, dies sei zweifellos erforderlich angesichts des Beispiels jener Freiheit, die neuerdings fast ausschließlich das Recht und die Grundlage der staatlichen Ordnung bildet.
Die Ungebundenheit, die fast überall mit Freiheit verwechselt wird, die Sucht, alles zu sagen und allem zu widersprechen, das Recht, in der Presse alles zu beurteilen und jede Meinung zu vertreten, haben die Geister in so tiefe Verwirrung gestürzt, dass der Nutzen und die Notwendigkeit dieses Lehramtes heute größer als je zuvor sind, um die Gläubigen vor einem Versagen des Gewissens und vor Pflichtvergessenheit zu bewahren.
Wenn man übrigens diese Frage sehr genau untersucht, so sieht man nicht klar, wohin – nach dem System der Neuerer – die von ihnen so hoch gepriesene vermehrte Wirkung des Hl. Geistes führen soll, nachdem die äußere Führung beseitigt ist. – Zweifellos ist die Hilfe des Hl. Geistes absolut notwendig für die Übung der Tugenden; aber diese Neuerungssüchtigen betonen zu stark die natürlichen Tugenden, als ob sie den Sitten und Bedürfnissen unserer Zeit mehr entsprächen und als ob ihr Besitz vorzuziehen sei, weil sie dem Menschen mehr Unternehmungsgeist und mehr Tatkraft verleihen.
– Es bereitet Mühe, sich vorzustellen, dass Menschen, die von der christlichen Lehre wirklich durchdrungen sind, die natürlichen den übernatürlichen Tugenden vorziehen und ihnen eine höhere Wirksamkeit und Fruchtbarkeit zuschreiben können. Soll denn die Natur, wenn sie von der Gnade unterstützt wird, schwächer sein, als wenn sie ihren eigenen Kräften überlassen bliebe? Waren die großen Heiligen, die die Kirche bewundert und öffentlich verehrt, töricht und schwächlich in den natürlichen Angelegenheiten, weil sie sich in christlichen Tugenden hervortaten? Und selbst wenn wir manchmal Gelegenheit haben, hervorragende Akte natürlicher Tugenden zu bewundern: wie viele Menschen gibt es, die wirklich einen „habitus“ natürlicher Tugenden besitzen? Wen verwirren nicht die Stürme heftiger Leidenschaften? Um sie dauerhaft zu beherrschen, um auch das natürliche Gesetz voll erfüllen zu können, braucht der Mensch unbedingt die göttliche Hilfe. Was einzelne Akte, wie Wir sie oben erwähnt haben, betrifft, so erweisen sie sich bei näherem Zusehen häufig mehr dem Anschein als der Wirklichkeit nach als Tugenden. – Aber geben wir einmal zu, dass es sich um wirklich tugendhafte Akte handelt. Wenn man nicht umsonst laufen und die ewige Seligkeit, zu der uns die Güte Gottes bestimmt hat, vergessen will, wozu nutzen dann alle natürlichen Tugenden ohne den Reichtum und die Kraft, die die Gnade ihnen verleiht? Der hl. Augustinus sagt zu Recht: „Große Anstrengungen, schneller Lauf, aber abseits vom Wege“ (In Ps. 31, 4). Die menschliche Natur, die durch die Erbsünde dem Laster und der Erniedrigung verfallen war, erhebt sich, richtet sich auf und kräftigt sich mit Hilfe der Gnade. So werden auch die Tugenden, die nicht nur aus den Kräften der Natur allein, sondern auch mit der Hilfe dieser Gnade geübt werden, fruchtbar für die ewige Seligkeit und zugleich stärker und dauerhafter.
Aus allem, was Wir bisher gesagt haben, ergibt sich, geliebter Sohn, dass Wir jene Meinungen nicht gutheißen können, die von vielen mit dem Namen „Amerikanismus“ bezeichnet werden.
Quelle: Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung, Hrsg. Arthur Fridolin Utz u. Birgitta Gräfin von Galen, lateinischer und deutscher Text, Band I, II 220-234, S. 310-327
Der gesamte Apostolische Brief ist hier zu lesen: Leo XIII. Testem benevolentiae nostrae Über den Amerikanismus