Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Libertiner und Libertinisten
Libertiner, 1) Bezeichnung für Freigelassene oder deren Abkömmlinge;
2) auch für Vertreter des Antinomismus. –
3) Nach Apg. 6, 9 eine Synagogen-Gemeinschaft in Jerusalem aus Nachkommen jüdischer Kriegsgefangener, die besonders unter Pompejus nach Rom gebracht, später aber wieder frei gelassen worden waren. Vielleicht ist eine 1913/14 in Jerusalem gefundene Inschrift die Bauinschrift ihrer Synagoge.
4) Jene Richtung unter den Reformierten der der Niederlande und Frankreichs, die von Poquet und Quintin (daher Quintinisten) geführt, seit 1525 eine pantheistisch-antinomistische Lehre und und Lebensweise verbreiteten.. –
5) Teilweise verwandt mit ihnen sind die Libertinisten (Perrinistes) in Genf, eine Oppositionspartei gegen Calvins tyrannische Gewissensregiment, die 1553 vorübergehend die Oberhand gewann. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VI, 1934, Sp. 553
Libertiner. I. die in der Apostelgeschichte 6, 9 als Inhaber einer Synagoge zu Jerusalem genannten libertini im gewöhnlichen Sinne, d. i. Freigelassene, und zwar frei gegebene Juden oder Nachkommen von solchen. Unter Pompejus wurden sehr viele Juden als Sklaven nach Rom gebracht, in der Folge aber wieder in Freiheit gesetzt; der größere Teil derselben ließ sich in Rom nieder jenseits der Tiber (…), andere kehrten in ihr Vaterland zurück. Von diesen Ankömmlingen muss jene Synagoge gegründet worden sein, welche das Eigentum und der religiöse Versammlungsort ihrer Nachkommen geblieben ist. Weil neben den Libertinern a. a. O. Cyrenäer und Alexandriner angeführt werden, die gleichfalls Synagogen in Jerusalem hatten, so glaubte man auch in jenem Ausdruck einen geographischen Namen annehmen zu müssen, und man erklärt ihn mit Juden aus Libertum, wie eine Stadt oder Landschaft in Africa proconsularis heißen soll, was aber nur aus dem auf einer carthaginensischen Synode vorkommenden Titel episcopus Libertinensis erschlossen wird (…)…
II. Parteien unter den Reformierten
Calvin bekämpfte in mehreren seiner Schriften, besonders in seiner Unstructio adversus fanaticam et furiosam sectam Libertinorum, qui se Spirituales vocant, eine Sekte der Libertiner oder Spiritualen, welche unter ihren Anführern und Stiftern Pockes, Ruffi, Quintin u. A. aus altem Sauerteig und neuer Zutat um 1525 in den Niederlanden entstanden war, sich von da nach Frankreich verbreitet hatte, wo sie bei Margaretha, der Königin von Navarra, Eingang fand und auch in anderen Gegenden der Reformierten Beschützer erhielt. In den Niederlanden nämlich waren noch aus alten Zeiten Überbleibsel der antinomistischen Begarden und Brüder des freien Geistes vorhanden, oder es war doch die Erinnerung an sie und ihre Lehren nicht untergegangen, als die Reformatoren des 16. Jahrhunderts die evangelische Freiheit, den Glauben ohne Werke und zum Teil auch wie Calvin die absolute Prädestination proklamierten und Gott zum Urheber der Sünde machten. Eine gewisse Verwandtschaft dieser Lehren mit denen der Begarden und Brüder des freien Geistes musste bald in die Augen fallen, und es war daher kein Wunder, daß es einigen Nachzüglern des mittelalterlichen Libertinismus sehr gelegen kam, ihre Geistesfreiheit unter den Reformierten zu verkünden. Wenn man alle nicht immer ganz deutlichen Streitschriften betrachtet, welche Calvin und einige Andere wider diese Libertiner verfaßt haben, so bestand ihre Lehre in Folgendem:
Gott wirkt Alles in allen Menschen selbst, oder er ist die Ursache aller menschlichen Handlungen; was man also von dem Unterschied zwischen guten und bösen Handlungen sagt, ist falsch und nichtig; die Menschen können im eigentlichen Sinne gar nicht sündigen; die Religion besteht in der Vereinigung der Seele des Menschen mit Gott, und wer durch Betrachtung und Erhebung der Seele zu dieser Vereinigung gelangt ist, der kann seinen Trieben frei folgen, bleibt bei allen seinen Handlungen unschuldig und wird nach dem Tode des Leibes mit Gott vereinigt werden. Außerdem wurden die Libertiner beschuldigt, die Auferstehung der Leiber geleugnet, die heilige Schrift für Fabelwerk erklärt und sich nach Umständen Katholiken, Lutheraner oder Reformierte genannt zu haben, weil die äußerlichen Handlungen ganz in der Willkür des Menschen ständen, und Alles nur auf den Geist, auf das innere Leben und auf das Leben Christi in uns ankomme. –
Von dieser Art Libertiner sind nun noch die im engeren Sinn so genannter Libertiner zu Genf zu unterscheiden, mit welchen Calvin so lange er lebte, in ganz besonders erbittertem Kampf lag. Zwar mögen auch zu Genf Libertiner jener Art gewesen sein, allein im Ganzen waren die Genfer Libertiner diejenige Partei, welche mit Calvins Cäsaropapismus, mit seiner Glaubens- und Sittenpolizei, mit seinem tyrannischen und blutdürstigen Regiment unzufrieden war. Diese Partei bestand aus verschiedenen Elementen, teils aus ganz ungläubigen und sittenlosen Menschen, teils aus solchen Neugläubigen, welche von Calvins Lehren abwichen, teils aus solchen, welche in Calvins Verfahren eine Beeinträchtigung der durch die Reformation errungenen natürlichen und evangelischen Freiheit und die Einführung eines neuen Papismus von ärgerer Art, als der vorige gewesen, erblickten. Vorzüglich befanden sich unter den Libertinern viele von denjenigen, welche, ehe noch Calvin anch Genf gekommen war, zuerst und am bereitwilligsten die Reformation ergriffen hatten und wie aus den Wolken fielen, als Calvin, der Fremdling, der Prädestinatianer, der Leugner der menschlichen Freiheit, der Prediger einer Lehre, die Gott zum Urheber der Sünder machte, und bei allem dem der Lobredner der evangelischen Freiheit – das düsterste Inquisitions-Tribunal errichtete. –
Quelle: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 7, 1891, Sp. 1960 – Sp. 1961