Der heilige Erzengel Raphael Arzt Gottes
Dieser heilige Erzengel hat sich selbst dem frommen Tobias, zu welchem er von Gott gesendet ward, kund gegeben: „Ich bin der Engel Raphael, einer aus den sieben, die vor dem Herrn stehen.“ Er wird wie der heilige Michael und der heilige Gabriel ein Erzengel genannt. Was wir von ihm wissen, findet sich im Buch Tobias. Der Hauptinhalt davon ist dieser. Als Tobias, der Sohn des alten Tobias, auf Verlangen seines Vaters nach Rages, einer Stadt in Medien, reisen wollte, um von dem Verwandten Gabelus eine Schuld einzufordern, sah er sich um einen Reisegefährten um, der ihn sicher an den bestimmten Ort führen und wieder zurück begleiten sollte. Er kam kaum auf die Straßen der Stadt Ninive, wo er wohnte, da traf er einen ansehnlichen Jüngling an, welcher schon umgürtet da stand, wie zur Reise fertig und bereit. Dieser Jüngling war, wie es der Ausgang zeigte, der heilige Raphael. Tobias fragte ihn, wer er wäre, und ob ihm der Weg nach Rages bekannt sei? Raphael antwortete, er wäre Azarius, der Sohn des großen Ananias, und wüßte den Weg nach Rages gar wohl, und hätte dort schon eingekehrt in dem Hause des Gabelus, eines Einwohners jener Stadt. Tobias, sehr erfreut, zeigte es seinen Eltern an, welche diesen Jüngling zu sich beriefen und gegen geziemende Belohnung begehrten, daß er ihren Sohn nach Rages begleiten und wieder zurück führen sollte. Raphael versprach in allem sein Bestes zu tun, und so traten sie die Reise an.
In der ersten Nacht blieben sie bei dem Fluss Tigris. Als Tobias abends in diesem Fluss seine Füsse waschen wollte, fuhr unversehens ein ungemein großer Fisch aus dem Wasser empor, als wollte er ihn verschlingen. Tobias rief seinen Reisegefährten um Hilfe an, und Raphael sagte zu ihm, den Fisch mutig anzufassen und an das Land zu ziehen. Tobias tat es und ward dann von seinem Begleiter ermahnt, den Fisch zu töten, zu öffnen, das Eingeweide heraus zu nehmen und das Herz, die Galle und Leber desselben als sehr wirksame Arzneimittel mit sich zu nehmen. Danach kehrten beide Reisende in dem Hause des Raguel ein, welcher ein verwandter des Vaters Tobias war. Dieser hatte eine einzige, sehr reiche, schöne und keusche Tochter, Sara mit Samen. Der Engel Raphael befahl dem Tobias, diese Sara zur Ehe zu begehren. Tobias fürchtete sich, dies zu tun, weil er gehört hatte, daß Sara schon mit sieben Männern vermählt worden sei, welche aber alle der böse Geist in der ersten Nacht um das Leben gebracht habe. Raphael aber sprach:
„Höre mich, und ich will dir anzeigen, wer diejenigen seien, über welche der Teufel Gewalt hat, nämlich diese: welche den Ehestand also antreten, daß sie Gott von ihrem Gemüte und Herzen ausschließen, und der Geilheit sich also ergeben wie ein Pferd und Maulesel, die keinen Verstand haben; über diese hat der Teufel Gewalt. Du aber, wenn du sie nehmen, und zu ihr in die Kammer gehen wirst, sollst dich drei Tage lang von ihr enthalten und mit ihr dem Gebet obliegen. Und in derselben Nacht, wenn du die Leber des Fisches anzündest, wird der Teufel verjagt werden. In der anderen Nacht wirst du in die Gemeinschaft der heiligen Patriarchen aufgenommen werden. In der dritten Nacht aber wirst du Segen bekommen, daß gesunde Kinder aus euch geboren werden. Wenn die dritte nacht vorbei ist, dann sollst du die Jungfrau in der Furcht des Herrn zu dir nehmen, und es soll dich vielmehr die Liebe zu Kindern, als fleischliche Lust dazu bewegen, damit du in deinen Kindern den Segen erlangst, der denNachkommen Abrahams verheißen worden ist.“ (Tob. 6, 16-22)
Tobias folgte in allem dieser merkwürdigen Unterweisung seines heiligen Reisegefährten. Er verlangte Sara zur Ehe, brachte nach geschehener Verehelichung drei Tage auf die von dem Engel vorgeschriebene Weise zu und blieb so unbeschädigt von jenem Höllengeist, der die vorigen sieben Männer wegen ihrer ungeziemenden Gelüste erwürgt hatte. Während sich Tobias in dem Hause Raguels länger aufhielt, reiste der himmlische Führer nach Rages, begehrte von Gabelus das geliehene Geld, empfing es ohne Anstand und kehrte damit wieder zu Tobias zurück. Bei diesem verblieben sie noch einige Zeit; endlich aber führte Raphael den Tobias nach Ninive in das väterliche Haus zurück.
Anna, die Mutter des Tobias, hatte indessen mit Sehnsucht und schmerzen der Heimkehr ihres Sohnes geharrt. Sie ging täglich auf einen Berg und sah umher, ob ihr geliebter Sohn nicht bald ankomme. Da sie ihn nun an dem Tage seiner Rückkehr von fern sah, lief sie eilends zu ihrem Ehemann und zeigte ihm ihres Sohnes Ankunft an. Dieser, weil er blind war, ließ sich von einem Knaben an der Hand führen und ging seinem Sohn entgegen. Anna tat ein Gleiches. Beide fielen demselben um den Hals, küßten ihn und brachen vor Freuden in Tränen aus. Sobald sie in ihre Wohnung gekommen waren, beteten sie demütigst zu Gott und dankten ihm wegen der so glücklich vollendeten Reise. Der Sohn nahm hierauf etwas von der Galle des Fisches, wovon oben gemeldet wurde, und bestrich damit die Augen seines blinden Vaters, wie ihm der Erzengel Raphael noch vor dem Eintritt in das Haus befohlen hatte. Ehe eine halbe Stunde verflossen war, wurde der blinde Vater wieder vollkommen sehend. Unbeschreiblich groß war die Freude des lieben alten Vaters, der Mutter, des ganzen Hauses und der ganzen Nachbarschaft. Als sie wegen dieser neuen Wohltat Gott gedankt hatten, erzählte Tobias seinen Eltern, welche Wohltaten ihm von seinem Reisegefährten erwiesen worden seien. „Er hat mich“, sprach Tobias, „gesund hin und her geführt; bei dem Gabelus hat er das Geld abgeholt: er hat mir eine Ehegattin verschafft, den bösen Geist von derselben vertrieben und ihren Eltern Freude bereitet; mich hat er von dem Rachen des Fisches errettet; dich hat er das Himmelslicht wieder sehen gemacht, und wir haben durch ihn sehr viel Gutes erhalten.“ Als Tobias seine Erzählung vollendet hatte, sagte er zu seinem Vater: „Wie können wir ihn würdig belohnen?“ Ohne des Vaters Antwort abzuwarten, machte er den Vorschlag, der Vater sollte dem so getreuen Reisegefährten den halbe Teil von allem, was er mitgebracht, als Lohn anbieten. Der Vorschlag wurde ohne Anstand gebilligt. Vater und Sohn riefen den himmlischen Reisegefährten zu sich und ersuchten ihn, er wolle den halben Teil des mitgebrachten Gutes als wohl verdiente Belohnung annehmen.
Der hl. Erzengel hielt es nun für geeignet, sich zu erkennen zu geben. Darum sprach er:
„Lobet den Gott des Himmels und danket ihm vor allen Menschen, weil er euch so große Barmherzigkeit erwiesen hat. Es ist zwar gut, des Königs Geheimnisse zu verbergen; die Werke Gottes aber offenbaren und loben, bringt Ehre. Das Gebet mit Fasten und Almosen ist besser, als Schätze von Gold aufzuhäufen; denn das Almosen errettet vom Tode, reinigt von Sünden und macht, daß man Barmherzigkeit finde und das ewige Leben. Welche aber Sünde und Ungerechtigkeit begehen, die sind Feinde ihrer Seele. Als du mit Tränen dein Gebet verrichtetest, die Toten begrubst und deswegen von der Mahlzeit aufstandest, und die Toten bei Tag in deinem Hause verbargst, nachts aber sie zur Erde bestattetest: da brachte ich dein Gebet vor den Herrn. Und weil du Gott angenehm warst, so war es notwendig, daß die Versuchung dich bewährte. Nun aber hat mich der Herr gesandt, dich zu heilen und Sara, deines Sohnes Eheweib, von dem bösen Geist zu befreien; denn ich bin der Engel Raphael, einer aus den sieben, die vor dem Herrn stehen.“
So sprach der heilige Erzengel. Der alte Tobias aber mit seinem Sohne erschrak; beide zitterten vor Furcht und fielen nieder auf die Erde. Der Erzengel Raphael aber befreite sie von der Furcht mit diesen Worten:
„Der Friede sei mit euch; fürchtet euch nicht; denn da ich bei euch war, war ich durch den Willen Gottes bei euch. Lobet und preiset ihn. Nun ist es Zeit, daß ich wieder zurück kehre zu dem, der mich gesandt hat. Ihr aber preiset Gott, und erzählet alle seine Wunderwerke.“
Mit diesen Worten beendigte Raphael seine Rede und verschwand vor ihren Augen. Sie aber lagen drei Stunden lang auf ihrem Angesicht zur Erde anbetend, voll Verwunderung über die Güte Gottes, die ihnen einen so vornehmen Himmelsfürsten zum Schutz, Trost und Heil gesendet hatte. Nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt, wiederholten sie ihre Danksagung gegen Gott und erzählten allenthalben die ihnen von Gott erzeigten Wohltaten.
Aus dieser eben so wahrhaften als wunderbaren Begebenheit schlossen verschiedene Schriftausleger nicht ohne Grund, daß der Erzengel Raphael mit großem Nutzen verehrt und angerufen werden könne, namentlich von jenen, die von dem bösen geist geplagt und versucht werden, mit Blindheit oder einer andern Krankheit behaftet sind, oder sich irgend wohin auf eine Reise begeben. Der Name Raphael selbst heißt so viel als die Arznei (Medizin) oder der Arzt Gottes, und zeigt an, daß dieser heilige Engel denen, die an Seele oder Leib krank sind, beistehen könne. Und die Kirche lehrt jene, die eine Reise anstellen, also beten:
„Der Engel Raphael begleite uns auf dem Wege.“ –
aus: Wilhelm Auer, Kapuzinerordenspriester, Goldene Legende Leben der lieben Heiligen Gottes auf alle Tage des Jahres, 1902, S. 850 – S. 853