Die liturgische Messfeier des neunten Sonntags nach Pfingsten
Uns Christen zur Warnung: „Wer glaubt zu stehen, sehe zu, dass er nicht falle!“
1. Vor dem Auge unseres Geistes lässt die Liturgie des heutigen Sonntags eine eindrucksvolle Prozession vorüberziehen:
das Volk Israel auf seiner Wüstenwanderung. Die großen, erhebenden und begeisternden Erlebnisse des Auszugs aus Ägypten und des Durchzugs durch das Rote Meer liegen schon geraume Zeit zurück. Der Alltag der Wüste mit ihrer Eintönigkeit und ihrem Druck lastet auf den Herzen und auf den Gesichtern. Die Wüstenpilger sehnen sich zurück nach den Genüssen Ägyptens; viele von ihnen tanzen um den goldenen Stier und treiben so schändlichen Götzendienst; andere treiben Unzucht, wieder andere murren wider Gott und Moses. Ob dieser Untreue kommen an einem Tag dreiundzwanzigtausend von denen um, die Unzucht getrieben; andere sterben durch den Biss der Schlangen, die Murrer werden vom Würgeengel getötet (Lesung).
Und ein zweites Bild: Von den Höhen des Ölbergs schaut Christus auf die Stadt Jerusalem hernieder. Und wie Er die schöne, stolze Stadt mit ihrem majestätischen Tempel betrachtet, da fließen ihm die Tränen über die Wangen: „Oh, wenn doch auch du erkenntest, und zwar an diesem deinem Tag, was dir zum Frieden dient!“
2. „Das alles widerfuhr jenen (den Israeliten auf dem Wüstenzug) vorbildlich. Uns nämlich ist es zur Warnung geschrieben. Wer darum meint, er stehe, der sehe zu, dass er nicht falle.“ Was wir in der Lesung an Israel in der Wüsten, was wir im Evangelium an Jerusalem sehen, dasselbe kann sich an uns, den Getauften, wiederholen.
Es ist nicht damit getan, dass wir in der heiligen Taufe aus dem Ägypten der gottentfremdeten Welt ausgezogen sind; dass wir uns der Knechtschaft des Pharao (Satans) entzogen, dass wir durchs Rote Meer hindurch geschritten und so der Gewalt des Feindes (Satans, der Hölle) entgangen sind; ebenso wichtig ist, dass wir uns der langen, ermüdenden Wanderung durch die Wüste des Lebens unterziehen, getreu den Verpflichtungen und Forderungen der heiligen Taufe und des Christenstandes: dass wir nicht gelüsten nach den Genüssen Ägyptens (der Welt), dass wir nicht falschen Göttern leben (Augenlust, Fleischeslust, Hoffart des Lebens), dass wir nicht Unzucht treiben, nicht den Herrn versuchen, nicht murren.
War Israel nicht auserwählt vor allen übrigen Völkern, hatte es nicht die Verheißungen Gottes, die Patriarchen, die Offenbarung, den Kult des wahren Gottes, die Opfer? Stand nicht in Jerusalem der herrliche Tempel von Herodes neu hergestellt? Brannte nicht unaufhörlich auf dem Brandopferaltar das heilige Opferfeuer, wohnte nicht im Allerheiligsten des Tempels in Jerusalem Gott selbst?
Deshalb vermeinte Jerusalem zu stehen – und es fiel! Hatte nicht das Volk in der Wüste Gott selbst zum Führer in der Feuer- und Wolkensäule, hatte es nicht die Bundeslade, die Opfer, einen gottbestellten Führer (Moses)? Und trotz alledem, es fiel in der Wüste!
Schützt also die Taufe, die Zugehörigkeit zur Kirche Christi, schätzt der Christenname allein vor dem Unheil und vor dem ewigen Untergang? „Wer meint, er stehe, der sehe zu, dass er nicht falle.“
3, In diesem ernsten Gedanken gehen wir heute zur Feier der heiligen Messe. Was wir in der heiligen Taufe und Firmung in die Seele gelegt bekommen haben, muss in hartem Ringen erhalten, bewährt und entfaltet werden. Kampfbereit schauen wir beim Einzug in das Gotteshaus mit Vertrauen auf das in der Apsis hernieder leuchtende hoheitsvolle Bild des Herrn und sprechen: „Siehe da, Gott hilft mir. In Deiner Treue vertilge meine Feinde“ (Introitus), jene Feinde, die nach Ausweis der Epistel dem Volk Israel zum Fall geworden sind: Weltliebe, Götzendienst, Unzucht, Murren. Diese Bitte legen wir in das Kyrie eleison, in die Oration und den Alleluja-Vers.
Die Wüstenwanderer der Lesung, das Jerusalem des Evangeliums sind wir selbst. Demütig bekennen wir, dass der Heiland leider nur zu sehr Grund hat, auch über unsere untreue Seele zu weinen und ihr zu sagen: „Dass doch auch du es erkenntest, und zwar an diesem deinem Tage, was dir zum Frieden dient.“ Wir glauben an diese seine mitleidsvolle Liebe zu unserer Seele und bekennen deshalb im Credo, dass er um des Friedens und Heiles unserer Seele willen vom Himmel gekommen, gekreuzigt, gestorben, begraben worden und auferstanden ist.
In der heiligen Wandlung kommt Er zu uns. Er weint über unsere Seele, Er erneuert für unsere Seele auf dem Altar Sein Sterben am Kreuz. Wir aber legen unser Herz auf die Patene. Wir entsagen allen verkehrten Gelüsten, allem Götzendienst, aller Unzucht, allem Murren. Wir wenden uns aufrichtig zum Herrn und bekennen: „Des Herrn Gesetze (Gebote) sind gerecht, sie machen die Herzen froh. Seine Satzungen sind süßer als Honig und Honigseim. Dein Knecht befolgt sie“ (Offertorium).
Uns zur Warnung
1. Eine erhabene Auserwählung ist uns in der Taufe und Firmung zuteil geworden. Die Liturgie der Wochen nach Ostern und Pfingsten ist nicht müde geworden, uns an unsere Reichtümer und Auserwählung zu erinnern. Heute spornt sie uns zur Treue gegen die Taufgnade, gegen unseren Christennamen an. „Wer glaubt zu stehen, sehe zu, dass er nicht falle“ (Lesung). Wir können die Gnaden missbrauchen, unserer Berufung und Auserwählung untreu werden. Und dann!
2. „Wer glaubt zu stehen, sehe zu, dass er nicht falle!“ Lesung und Evangelium lenken unseren Blick auf das auserwählte, reich begnadete Volk Israel. Mit Macht hat der Herr die Knechtschaft in Ägypten gewendet.
Unter steten Wundern und unter einem ganz besonderen Schutz hat Er das Volk durch das Rote Meer geführt, mit ihm am Sinai den Bund geschlossen, ihm in den Zehn Geboten Seinen Willen kundgetan, ihm in der Wolkensäule ein schützendes Dach gegen die sengende Sonne gegeben und in der Feuersäule eine das ganze Lager erhellende Ampel hingestellt. Aus dem Felsen ließ er reichlich Wasser strömen, und täglich speiste Er sie mit Manna.
Und da sie endlich nach langen Jahren an den Jordan kommen, erleben sie neue Wunder: sie gehen trockenen Fußes durch das Strombett des Jordan; sie ziehen betend, Gott lobpreisend um die Mauern von Jericho und überwinden die Stadt; sie erfahren es handgreiflich, wie Gottes Kraft ihre Feinde, die Kanaanäer (Kanaaniter), in ihre siegreichen Hände gibt. Sie haben die Bundeslade, sie haben das Gesetz, sie haben ein Priestertum, später an Stelle des einfachen Bundeszeltes den herrlichen Tempel in Jerusalem und erfahren immer und immer wieder die Hilfe, den Schutz Gottes.
Sie fühlen ihre Auserwählung. Sie verlassen sich darauf. Wir sind Kinder Abrahams, meinen sie (Matth. 3, 9), wir haben den Tempel des Herrn (Jer. 7, 4). „Sie glauben zu stehen.“
Das auserwählte Volk entspricht seiner Auserwählung nicht. „Seien wir nicht nach dem Bösen lüstern, so wie jene (auf dem Zug durch die Wüste) lüstern waren. Werdet auch keine Götzendiener wie einige von ihnen, von denen geschrieben steht: Das Volk setzte sich zu essen und zu trinken; dann standen sie auf, um (um das goldene Kalb) zu tanzen. Lasst uns auch nicht Unzucht treiben, wie einige von ihnen Unzucht getrieben haben, weshalb an einem Tag dreiundzwanzigtausend umkamen. Lasst uns Christus nicht versuchen, wie einige von ihnen Ihn versucht haben und durch Schlangen umkamen. Murret nicht, wie einige von ihnen gemurrt haben und durch den Würgeengel getötet wurden.
Das alles widerfuhr jenen vorbildlich: es wurde für uns zur Warnung geschrieben. „Wer darum glaubt zu stehen, sehe zu, dass er nicht falle!“ (Lesung) Israel fällt! Es wird von Gott fallen gelassen, verstoßen.
Wie sehr ist ihm der Herr nachgegangen! Mit wie viel Liebe hängt Er an Jerusalem! Er weint über die Stadt. „Wenn doch auch du es erkannt hättest, und zwar an diesem deinem Tage (da dein Heiland dich heimsucht), was dir zum Frieden dient! Nun aber ist es vor deinen Augen verborgen. Es werden Tage über die kommen, da deine Feinde dich mit einem Wall umgeben, dich ringsum einschließen und dich von allen Seiten belästigen. Sie werden dich samt deinen Kindern zu Boden schmettern und in dir keinen Stein auf dem anderen lassen, weil du die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt hast.“
Wie ist das alles vierzig Jahre später buchstäblich eingetroffen! Jerusalem, das von Gott auserwählte und bevorzugte Jerusalem, fällt, weil es die Zeit der Heimsuchung nicht erkannt und die Gnaden Gottes missbraucht hat.
Uns Christen zur Warnung! Nicht die Auserwählung, nicht das Christsein allein tut es, sondern darauf kommt es an, dass wir die uns gebotenen Gnaden der Taufe, der heiligen Firmung, der heiligen Messe und Kommunion, der Zugehörigkeit zur Kirche annehmen und in treuer Folgsamkeit gegen sie Schritt für Schritt dem eigenen Geist und Sinn sterben, auf dass das Gottesreich in uns zur Vollendung gelange.
3. „Das alles widerfuhr jenen vorbildlich; es wurde für uns, die wir in den letzten Zeiten (d. i. in der christlichen Weltzeit) leben, zur Warnung geschrieben: „Wer zu stehen glaubt, sehe zu, dass er nicht falle.“ Dass es uns nicht ergehe wie Jerusalem: „Du hast die Zeit deiner Heimsuchung nicht erkannt.“
Auch an den Getauften muss die Versuchung herantreten, um seine Treue gegen Gott und Christus zu erproben, zu befestigen, zu bewähren. Die Versuchung droht uns von dem eigenen Ich, von der bösen Begierlichkeit, von der Eigenliebe, die ihren eigenen Wünschen folgen will und sich dem Wirken der Gnade und des Heiligen Geistes widersetzt. Die Versuchung kommt auch von außen, von der Welt und vom Teufel, der „umhergeht, suchend, wen er verschlinge“ (1. Petr. 5, 8).
Gebet
Herrn, den Bitten der Flehenden tue auf Dein Ohr, und um den Bittenden ihre Wünsche gewähren zu können, lass sie verlangen, was Dir wohlgefällig ist. Durch Christus unsern Herrn. Amen.
Quelle: Benedikt Baur OSB, Werde Licht, Liturgische Betrachtungen an den Sonn- und Wochentagen des Kirchenjahres, III. Teil Osterfestkreis, 1937, S. 202 – S. 207
Siehe die Beiträge zum Schicksal Jerusalems:
Siehe auch die Beiträge auf katholischglauben.online: