Pius XII über Sittliche Verwahrlosung

Hut, bischöflicher Krummstab, Kleidungsstücke eines Papstes

Pius XII über Sittliche Verwahrlosung der heutigen Gesellschaft

Ansprach an das Kardinalskollegium: 2. November 1950: ASS XLII (1950)

Papst Pius XII. mit Stola

Begrüßung der Kardinäle

549 Mit einer Ergriffenheit, wie Wir sie selten im Laufe der Jahre Unseres Pontifikates erlebt haben, grüßen Wir Euch heute, ehrwürdige Brüder, Ihr, Unsere auserlesene Freude. Der Grund der Erhebung des Herzens ist Euch bekannt. Der Ratschluss des ewigen Gottes, dessen Natur Güte ist, hat Uns, die Wir von früher Jugend an die hehre Gottesmutter in inniger Andacht verehren, ohne Unser Verdienst erwählt, dass Wir durch den Ausspruch Unseres höchsten Lehramtes bekräftigen und mit irrtumsloser Erklärung verkündeten: es ist eine vom Himmel geoffenbarte Wahrheit, dass die erhabene, von der Erbschuld freie und jungfräuliche Gottesgebärerin mit Seele und Leib in den Himmel aufgenommen wurde.

Darob empfinden Wir Trost und Freude, wie Wir Uns auch gestern sehr gefreut haben, als Ihr in so großer Zahl bei der Ausübung der höchsten Vollmacht Unseres heiligen Amtes um Uns versammelt ward und durch Eure Gegenwart Eure vorher geäußerten, fast einstimmigen Urteil bestätigt habt, zugleich als Zeugen des Glaubens Eurer Herden an dieses so große Geheimnis, das Gott und auch unsere Mutter betrifft.

Die Feierlichkeiten des Heiligen Jahres, ein Symbol der Einheit der Kirche

550 Es ist fürwahr eine große Stunde, die Wir mit Euch verbringen. Wenn Wir von der Zeit des Allgemeinen Vatikanischen Konzils absehen, ist in der Kirchengeschichte kein Fall bekannt, wo eine größere Schar von Bischöfen als jetzt den Nachfolger des Apostelfürsten Petrus umgeben hatte. Die Fortschritte der Technik und die organisatorischen Erfahrungen haben dies ermöglicht, und zwar nicht ohne großen Nutzen der kirchlichen Einheit. Deshalb sagen Wir dem vorsorgenden Gott Dank dafür, dass jene Errungenschaften in die heutige Zeit fallen, in der, durch die himmlischen Gnade angeregt, sowohl bei den geweihten Hirten wie bei den ihrer Sorge anvertrauten Gläubigen ein starker Wille zur Einheit sich so wirksam wie kaum jemals in der Geschichte regt.

551 Wenn Ihr aus entlegenen Ländern, ja von den äußersten Enden der Welt hier zusammengekommen seid, so ist das ein neues und klares Zeugnis für die Natur der Kirche Christi, die in ihrem weiten Schoß alle Völker umfasst. In dem vielfältigen Schauspiel, das dieses Heilige Jahr wie kein anderes vor ihm bot, ist diese Eure Zusammenkunft und Versammlung gleichsam der Höhepunkt, da sie mit besonderer Deutlichkeit beweist, wie die Katholiken aller Stämme und Zungen im Glauben und in der Liebe zusammenwachsen.

I. Die kirchenfeindliche Welt

Gedenken der Gläubigen hinter dem Eisernen Vorhang

552 Doch zu Unserem großen Schmerz können Wir nicht verschweigen, was nicht Schuld der Kirche ist, sondern Gewalt und Zwang von außen. Leider, leider fehlen in Euren Reihen und in der Schar der Pilger die Christgläubigen aus jenen Ländern, wo die Freiheit verwehrt ist, sich friedlich mit den Glaubensbrüdern zu treffen in dieser ehrwürdigen Stadt, der geliebten und liebenden Heimat und Hauptstadt des christlichen Erdkreises.

O teuerste Kinder, der heiligen Freiheitsrechte elend beraubt, Ihr bleibt keineswegs bei Uns vergessen, noch Unserem Gebet fern. Ja, wenn es in Unserer Liebe zu den Schäflein Christi Grade geben dürfte, so ständet ihr in Unserem Wohlwollen an erster Stelle. Täglich richten Wir zu Gott inständige Gebete für Euch und für die Völker. Denen Ihr angehört. Wir wissen das Gerade vom Krummen zu trennen, Wir wissen die Völker von den Ideologien zu unterscheiden, die, obgleich sie zeitlichen und ewigen Ruin mit sich bringen, ihnen aufgezwungen werden.

Wir haben zwar gewisse Ideologien verworfen und verurteilt, aber damit haben Wir weder gegen einige Völker noch gegen irgendein Staatswesen als solches etwas unternommen, sondern Wir haben nur vor den irrigen Meinungen gewarnt, die darauf ausgehen, den Begriff des ewigen Gottes auf dem Erdkreis zu verwischen und den christlichen Glauben zu zerstören, und die sich zur Verwirklichung dieser gottlosen Absicht der Macht politischer Parteien bedienen. Wir haben nichts anderes gesagt und getan, als was das Bewusstsein Unserer Pflicht verlangt, das Uns Gebot ist.

Der Papst ist kein „Kriegstreiber“

553 Es ist wohl nicht nötig, in der Ansprache, die Wir jetzt an Euch richten, noch die Anklage zurückzuweisen, womit einige – Ihr alle wisst, wen Wir meinen – lügnerisch behaupten, der Papst wolle den Krieg, arbeite auf den Krieg hin und mache sich dabei zum Helfer eines großen und mächtigen Staates. Wenn in den letztvergangenen Jahren, kaum dass der Weltkrieg beendet war, die Völker aus Furcht vor einem neuen bewaffneten Zusammenstoß nicht aus der Unruhe und Erregung, herauskamen, ähnlich wie wenn die Erde durch Beben immer wieder erschüttert wird, so trifft die Schuld hierfür in keiner Weise die Kirche und ihr Oberhaupt, die unablässig die Sachwalter und Verteidiger des Rechtes der Gerechtigkeit und des Friedens waren und sind.

Soweit Wir es als Unsere Pflicht erachten, über Krieg und Frieden zu urteilen, haben Wir es – um von Unseren anderen Verlautbarungen zu schweigen – offen und freimütig getan in der Rundfunkbotschaft, die Wir am Heiligen Abend des Jahres 1948 an alle Völker richteten. Damals glaubten Wir tatsächlich nicht, dass schon bald die Ereignisse Unsere Worte bestätigen würden. Dennoch sei es ferne von Uns, dass Wir die Hoffnung auf die Möglichkeit aufgeben, den Frieden ohne die Gefahr kriegerischer Verwicklungen zu bewahren und zu verteidigen.

Die vorauszusehenden, unheilvollen Übel möge Gott, bei dem kein Ding unmöglich ist, fernhalten (vgl. Luk. 1, 37) Und bei Gott möge die gütigste Mutter der Gnaden, die Mutter der Barmherzigkeit, Maria, für die Sache eines wahren Friedens eintreten. –

Das ist die erste, inständige Bitte, die Wir an die Himmelskönigin richten, deren Lobpreis und Ehre zu mehren Wir die große Freude hatten. Ihr aber, ehrwürdige Brüder, sollt den Klerus und das Eurer Wachsamkeit anvertraute Volk ermahnen, dass sie der Förderung des echten Friedens durch Nächstenliebe, Gebet und Selbstaufopferung jederzeit und mit allen Kräften zu dienen suchen.

II. Stellungnahme zu sittlich-sozialen Fragen

1. Verschwenderische Vergnügungssucht

Werke der Buße als Ausgleich für das eingeschränkte Fasten- und Abstinenzgebot

554 Sie sollen die Waffen des Geistes ergreifen und einen heiligen Feldzug unter dem Zeichen des Kreuzes beginnen. Bei dieser sich Uns bietenden Gelegenheit wollen Wie Euch, ehrwürdige Brüder, und allen, die sich katholisch nennen, etwas kundtun, was Wir schon lange und häufig im Herzen erwägen. Ihr wisst, dass das kirchliche Abstinenz- und Fastengebot in diesen letzten Jahren sehr gemildert wurde. Dazu trieben die Lebensmittelverhältnisse einer ganz großen Zahl von Katholiken, besonders jener, die in Großstädten wohnen und in Fabriken arbeiten. Für diese wäre die Beobachtung des früheren Gesetzes schwer, ja fast unmöglich gewesen. Deshalb wurde seinerzeit die erwähnte, zeitweise Änderung getroffen.

555 Die Gläubigen unserer Tage würden aber hinter der Tugend der Vorfahren zurückbleiben, wenn sie nicht durch freiwillige, unserer Zeit entsprechende Werke der Buße jene Milderung des althergebrachten Gebotes ausgleichen würden, und dies gerade heute, wo mehr als einer von jenen bösen Geistern so schrecklich wütet, die nach den Worten des göttlichen Meisters nur durch Gebet und Fasten ausgetrieben werden können (vgl. Matth. 17, 20), und daher die geistige Hinopferung seiner selbst höchst notwendig ist, um so viele Übelstände sittlicher und sozialer Art zu überwinden und zu beseitigen.

556 Dieser Ausgleich geschieht auch schon. Was nämlich die Taten der Mildtätigkeit angeht, die nach dem letzten Weltkrieg während des Krieges selbst geleistet wurden, so gestehen Wir zu Unserem nicht geringen Trost: die Freigebigkeit der Katholiken war so groß, dass sie keinen Vergleich mit irgendeinem Beispiel der Wohltätigkeit vergangener Zeiten zu scheuen braucht. Von Unserer Seite sagen Wir, ebenfalls bei dieser Gelegenheit, den Bischöfen des katholischen Erdkreises, vor allem jenen, die in wohlhabenden Gegenden ihr heiliges Amt versehen, sowie den ihrer Hirtensorge anvertrauten Gläubigen Dank dafür, dass sie Uns in reichem Maße die Mittel verschaffen, um die Not so vieler Bedürftiger wirksam abzuhelfen.

557 Neben der erwähnten, hochherzigen Mildtätigkeit haben Wir aus Erfahrung festgestellt, dass auch jetzt in der Kirche der Bußgeist lebendig ist, was sich dann sehr deutlich zeigt, wenn widrige Umstände und Not, die Gott zulässt oder schickt, starkmütig und gelassen ertragen werden, oder wenn man sich freiwillig der Vergnügungen und übermäßigen Genusses enthält.

Materialistische Einstellung als innere Ursache der Genusssucht

Wir können aber nicht die Worte «Vergnügen» und «Genuss» in den Mund nehmen, ohne dass Wir schmerzlich den in unerträglicher Weise wachsenden luxuriösen Aufwand beklagen, der zum Elend und der Not vieler anderer in so schreiendem Gegensatz steht. Luxus und Vergnügungssucht sind die Folge einer Lebensauffassung und Lebensführung, die vom Materialismus durchsetzt sind, und sie rufen entsprechende Sitten hervor.

Könnte es denn anders sein? Wenn der Mensch das Bewusstsein der eigenen Würde verliert, wenn er das Maß und Gleichgewicht im Handeln vernachlässigt, wenn das Geistige, das Übernatürliche und Ewige nicht beachtet, geschweige denn als wahre Quelle des Glücks angesehen wird, dann nehmen Habsucht und zügellose Gier nach den irdischen Gütern überhand, und statt der Ehrfurcht vor dem Namen und der Majestät Gottes werden die Technik und die stumpfe und blinde Gewalt verehrt. Wir nehmen das vorhin gespendete Lob nicht zurück und widerrufen es nicht.

Aber es darf diese Gier nach Vergnügen und Luxus nicht übersehen und nicht geleugnet werden, die gleich einem reißenden Strom sich ausbreitet und nicht dahin flutet, ohne auch die Katholiken zu berühren und hier und dort sogar bedenklich in ihr Gebiet und Territorium einzudringen. Als gütige und nachsichtige Mutter schränkt die Kirche die Freiheit nur in den Dingen ein, die im Widerspruch stehen mit der Einfachheit christlicher Lebensführung, mit der Beobachtung der Sittengesetze und mit der Pflicht, fremder Not zu helfen. Ist nicht die Freude gleichsam ein Kennzeichen und eine Zier für katholische Völker? Es geht aber nicht an, dass das Streben nach den Genüssen des Lebens die Grenzen des Billigen und Ehrbaren überschreite.

Sinn und Zweck eines maßvollen und entsagenden Lebens

559 Gegenüber einer solchen Unbeherrschtheit richten Wir an alle die dringende Mahnung, dass sie willig kämpfen unter dem Zeichen christlicher Entsagung und Selbstaufopferung über das hinaus, was die sittlichen Gesetze vorschreiben, jeder nach dem Maß seiner Kräfte, nach dem Antrieb der Gnade Gottes, nach den Möglichkeiten, die der Beruf bietet. Vielfache Ziele sind da zu erreichen. Vor allem wird jeder einzelne durch Buße seine Vergehen sühnen, die Makel der Sünden aus der Seele tilgen und so immer heiliger und stärker werden. Dann wird er den Glaubensbrüdern und denen, die außerhalb stehen, zum Beispiel und Ansporn dienen; was er der Eitelkeit entzieht, wird er für die Nächstenliebe verwenden und wird barmherzig den Bedürfnissen der Kirche und der Armen abhelfen.

So haben es die Gläubigen der Urkirche gehalten, fastend und auch von Erlaubtem sich enthaltend, haben sie die Quellen wohltätiger Nächstenliebe gespeist. Solchen Beispielen zu folgen ist lobenswert und völlig der Lage und dem Zustand unserer Zeit entsprechend, nicht bloß in dieser oder jener Gegend, die von selbst sich durch die Tugend der Freigebigkeit hervortut und den Bedürfnissen der Kirche abhilft, sondern ausnahmslos in allen Teilen der Welt.

560 Es liegt Uns, ehrwürdige Brüder, sehr am Herzen, dass auch voll verwirklicht werde, was Wir nahelegen. Auch uns gilt, wie den ersten Christen, die Mahnung des Apostels Paulus: «Ich ergänze an meinem Fleisch, was von den Leiden Christi noch fehlt, zugunsten seines Leibes, das ist die Kirche.» (Kol. 1, 24) Es ist unser aller Pflicht, wie derselbe Apostel sagt, uns zu mühen, «in Geduld … in Arbeiten, in Nachtwachen und Fasten … in ungeheuchelter Liebe» (2. Kor. 6, 46), zum Aufbau des Reiches Gottes. Wurde nicht ausdrücklich für die Priester jenes Wort gesagt: «Ich züchtige meinen Leib und mache ihn mir dienstbar, damit ich nicht etwa, nachdem ich andern gepredigt habe, selbst verworfen werde» (1. Kor. 9, 27)? –

Dies ist tatsächlich das zweite Anliegen, das Uns dringende Gebete an die Gottesmutter richten lässt: Möge Maria, die in den Himmel aufgenommen wurde und deren Seele und Leib vollkommen und gänzlich frei waren von jeder Schuld, von jeder ungeordneten Verwirrung, von jeder unbeherrschten Regung, die Erfüllung Unserer Hoffnung von ihrem göttlichen Sohn erflehen. –
aus: Utz OP/Groner OP, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., Bd. I, 1954, S. 242 – S. 249

Folgebeitrag: Ehe und Familie

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