Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Limbus
Limbus heißt der Aufenthaltsort für die ohne persönliche Schuld zum Eintritt in den Himmel unfähigen Seelen der Verstorbenen. –
Da selbst die höheren Geister von Gott zur körperlichen Welt in gewisse Beziehungen gesetzt sind, welche von ihrer Natur nicht gefordert werden, so ist es entsprechend, dass auch die menschliche Seele, nachdem sie von ihrem Körper durch den Tod getrennt worden, einen andern körperlichen Raum, an dem sie zu leben habe, angewiesen erhalte. Über die Art und Weise, wie unkörperliche Wesen an diesem Aufenthaltsort gegenwärtig seien, lässt sich nur sagen dass sie von der uns bekannten und gewohnten Weise körperlicher Gegenwart verschieden sein müsse.
Unkörperliche Wesen können sicherlich irgendwo gegenwärtig sein; die Qualität des Raumes aber, in welchem sie sind, hat man sich als eine verschiedene vorzustellen, je nach der Würde und Bedeutung des in ihm gegenwärtigen Geistes. Wenn nämlich die Seele auch nicht direkt durch den Aufenthalt an diesem Raum, wie durch einen körperlichen Einfluss, den sie aufnehme, Freude oder Schmerz empfindet, so liegt doch sicherlich in der durch die Zuweisung an einen bestimmten Aufenthaltsort von distingierter Beschaffenheit von Gott gegebenen Klassifikation und Würdigung der Seelen ein Grund, in dem Aufenthalt daselbst Freude oder Trauer, Lohn oder Strafe zu finden. –
Da nun die heilige Schrift als Wohnort Gottes vorzugsweise den Himmel bezeichnet, so ist dieser zugleich der Aufenthaltsort für alle mit ihm in unzertrennlicher und vollkommener Gemeinschaft verbundenen geistigen Wesen (die Engel und Seligen). Den Aufenthaltsort der in unversöhnlichem und vollkommenem Gegensatz zu ihm stehenden geistigen Wesen denkt man sich auch räumlich in ganz entgegengesetzter Lage und Richtung als Unterwelt, Hölle. Es ist aber noch ein dreifacher Zustand der menschlichen Seele denkbar, welcher, ohne den Aufenthalt in der Hölle zu verdienen, dennoch vom Himmel ausschließt. Demnach muss man außer Himmel und Hölle noch drei verschiedene Aufenthaltsort der abgeschiedenen Seelen annehmen:
1. für die übernatürliche Lebensgemeinschaft mit Gott bei mangelnder Sühne für persönliche Sünden – das purgatorium (Fegefeuer);
2. für übernatürliche Lebensgemeinschaft mit Gott bei mangelnder Sühne für die Erbsünde – den limbus patrum, die Vorhölle;
3. für mangelnde übernatürliche Lebensgemeinschaft mit Gott ohne persönliche Schuld infolge der Erbsünde – den limbus puerorum.
Wenn nun auch diese drei Orte, insofern man ihre räumliche Lage betrachtet, zum infernus gehören, wie ja auch jeder derselben mit diesem allgemeinen Namen von den Schriftstellern bezeichnet wird, so sind doch sicherlich der Qualität nach alle drei von einander verschieden und deshalb unter sich auch räumlich getrennt.
Der Ort des Fegefeuers
Das Purgatorium denkt man sich räumlich der Hölle am nächsten, da sich ja nach einer wohl begründeten Ansicht die poena sensus, die sinnliche Pein zur Strafe für die persönlichen Verschuldungen, in der Hölle von derjenigen im Fegefeuer nur der Zeitdauer und Stärke nach unterscheidet, also beide Aufenthaltsorte mit einander große Ähnlichkeit haben. Wie das Fegefeuer wegen der poena sensus, so gehört der limbus patrum und puerorum wegen der darin zu büßenden poena damni gleichfalls noch zur Region der Unterwelt, aber sie sind doch von den dort herrschenden Schrecken weit entfernt und liegen gleichsam am Rande, am Saum (= limbus) dieser schauerlichen Tiefe und Finsternis, zunächst dem Glück und Licht des ewigen Lebens.
Die Vorhölle
Was nun speziell den limbus patrum betrifft, so wird 1. seine Existenz bezeugt durch Hebr. 11, 39; 9, 8 und ist sie Voraussetzung der Glaubenslehre vom descensus Christi ad inferos. Die Erklärung, warum vor Christus alle Gerechten, welche entweder hier auf Erden oder im Fegefeuer ihre persönlichen Sünden abgebüßt, dennoch vom Eintritt in den Himmel abgehalten und in den limbus patrum verwiesen wurden, liegt in Folgendem.
Die Erbsünde, mit welcher jeder behaftet zur Welt kommt, ist zunächst eine in der menschlichen Natur, auf dem menschlichen Geschlecht haftende, und erst infolge davon eine Makel des einzelnen Menschen, der einzelnen Person, welche Herr und Träger, Besitzer und verantwortlicher Leiter ihrer Natur ist. Indem das Individuum die menschliche Natur seine eigene nennt, wird auch die der Natur anhaftende Sünde die Sünde der Person; „die Natur steckt die Person an“, sagen die Theologen.
Die Aufhebung und Tilgung des so geschaffenen sündhaften Zustandes im Menschen geht den umgekehrten Weg. Die von Christus für alle Menschen dargebotene Erlösung wird dem Geschlecht und der Natur nur in dem Maße zu Teil, als zuvor und zunächst die einzelnen Glieder mit Christus in übernatürliche Lebensgemeinschaft treten und so zu einer übernatürlichen Familie und einem heiligen Geschlecht sich zusammen schließen, heranwachsen, dessen Haupt und Stammvater Christus ist. Der so von jedem Einzelnen für sich und besonders geforderte Eintritt in die übernatürliche Lebensgemeinschaft mit Christus hat nun zwei Teile: erstens die Hinwendung des Herzens zu Gott mit Hilfe der Gnade; zweitens die Leistung einer Genugtuung für die in der Abwendung von Gott gelegene Beleidigung desselben.
Wie aber der einzelne Mensch als solcher hierfür nicht verantwortlich, so ist er auch zur Leistung einer Genugtuung für die Sünde des ganzen Geschlechtes nicht fähig. Die Erbsünde steht sowohl in ihrem Ursprung als in ihrer Sühne gänzlich außer dem Bereich des persönlichen, individuellen Wollens und Könnens. Sie ist culpa naturae und kann nur vom Vertreter und Haupt der Natur, des Geschlechtes für diese gesühnt werden.
Anders verhält es sich aber mit der culpa originalis ex parte personae; diese kann und muss durch habituelle oder aktuelle Hinwendung der Seele in und von jedem Einzelnen zu Christus, dem verheißenen Erlöser, in Glaube und Liebe mit Hilfe der Gnade getilgt werden, da Erkennen und Lieben eine höchst persönliche Sache ist. Dieser letztere Teil der Erlösung von der Erbsünde (culpa ex parte personae) konnte also, weil das persönliche Verhalten des Einzelnen affizierend, auch von den einzelnen Personen nach Gottes barmherzigem Ratschluss schon vor dem vollbrachten Erlösungswerk antizipiert werden durch den Glauben und die Hoffnung auf Christus und sein Werk.
Die hierdurch mit Gott übernatürlich Verbundenen blieben aber trotzdem vom Eintritt in den Himmel ausgeschlossen, bis auch der erstgenannte Teil, d. h. die auf dem Geschlecht als solchem, in seiner geschlossenen Gesamtheit lastende Schuld, die culpa ex parte naturae, gesühnt war. Dies geschah erst durch den Tod Jesu; durch diesen wurde die volle Genugtuung für das Geschlecht wirklich geleistet, deren sichere Erstattung die lange voraus schon gewährte Teilnahme der einzelnen Väter an den Verdiensten Christi beim Empfang der Gnaden zum Glauben und zur Hoffnung auf den Erlöser möglich machte.
2. Mit dem Tode Jesu hörte deshalb auch der limbus patrum zu existieren auf, und es wurden die dort Zurückgehaltenen mit dem Erscheinen Christi in der Vorhölle zur Anschauung Gottes zugelassen.
3. Die im limbus patrum weilenden gerechten und heiligen Seelen der Väter waren ohne positiven Schmerz, allen Mühseligkeiten und Gefahren enthoben. Sie harrten in zuversichtlicher Sehnsucht und Hoffnung, hatten aber nicht die Ruhe des Besitzes und der Befriedigung; ihre Glückseligkeit war deshalb eine mangelhafte, der Aufenthalt im Limbus ein durch die Erbsünde verschuldeter, die Zurückhaltung vom Himmel eine unfreiwillige, gewaltsame und darum lästige und so in ähnlicher Weise eine zeitliche Strafe der Erbsünde für die Gerechten vor Christus, wie jetzt noch für die Gerechten nach Christus der leibliche Tod und die Zurückhaltung des Körpers im Grab.
4. Der Name limbus = Saum, Rand findet nach Obigem seine Erklärung in der räumlichen Lage, in welcher man sich diesen Aufenthaltsort der Seelen vorstellt. Der Zusatz patrum verweist in denselben alle „Gerechten“, d. h. Gerechtfertigten, im Stande der heiligmachenden Gnade Befindlichen aus allen Völkern und Zeitaltern, die vor dem Tode Christi in der Freundschaft und Gnade Gottes und so mit dem Anspruch auf das Erbe der Kinder Gottes gestorben sind.
Dieser Aufenthaltsort heißt auch sinus Abrahae, weil Abraham der Vater aller Gläubigen ist, nicht bloß der Juden, sondern auch der Heiden. Er heißt auch bei den Rabbinern paradisus inferior im Gegensatz zum paradisus superior, dem Himmel.
5. Die falsche Lehre, dass die vor Christus verstorbenen Gerechten schon vor der Höllenfahrt Christi die Anschauung Gottes besessen hätten, wurde von Kanonikus Cadonici in Cremona vorgetragen und vom Dominikaner Mamachi in seinem Werk De animabus justorum in sinu Abrahae ante Christi mortem expertibus beatae visionis Dei LL. II, Romae 1766, widerlegt.
Quelle: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 7, 1891, Sp. 2059 – Sp. 2062
Der Limbus für die ungetauften Kinder
Limbus puerorum, Ort und Zustand der mit der Erbsünde allein hingeschiedenen Kinder, die weder im Himmel noch in der Qual der Hölle sich befinden, aber unter der poena damni, der Strafe des Verlustes der Anschauung Gottes, stehen. Papst Innozenz III. schreibt 1210 an Erzbischof Ymbert v. Arles: Absit, ut universi parvuli pereant, quorum quotidie tanta multitudo moritur… Dicimus distinguendum, qiod peccatum est duplex, originale et actuale… Poena originalis peccata est carentis visionis Dei, actualis vero… gehennae perpetuae cruciatus (Denzinger 410).
Pius VI. verurteilt 1794 die jansenistische Leugnung des Satzes „poena damni citra poenam ignis puniuntur“ (ebd. 1526). Augustin hatte über die Folgen der Erbsünde zu düster gedacht und deshalb den ungetauft verstorbenen Kindern die Feuerstrafe, wenn auch in damnatione omnium levissima, zugeschrieben, so dass vielleicht ihr Zustand dem Nichtsein doch noch vorzuziehen sei (Contra Julianum 5, 11 n. 44; vgl. Enchir. 93). Die gleiche Lehre vertraten u. a. Fulgentius (De fide ad Petrum 27. 68), Anselm (De conc. Virg. Et de pecc. Orig. c. 27), Gregor v. Rimini (In 2 Sentent. Dist. 31 q. 3) und neuere Anhänger des Augustinismus.
In häretischer Weise leugneten mit Berufung auf Augustinus die Jansenisten den qualfreien Zustand. Dem entgegen sagt Gregor v. Nazianz von den ungetauft verstorbenen Kindern: „Sie werden weder verherrlicht noch gezüchtigt, werden vom gerechten Richter, da sie zwar ungetauft, aber auch nicht böse sind, sondern den Schaden mehr erlitten als getan haben.“ (Or. 40, 23). Thomas von Aquin begründet die Angemessenheit der von Innozenz III. gelehrten poena damni ohne Qual (De malo q. 5 a. 5; Sent. II dist. 33 q. 2 a. 2). Bellarmin bezeichnet aber die Lehre, die poena damni sei mit einer natürlichen Seligkeit verbunden, als häretisch (De amiss. Gart. VI 2).
Doch ist die Annahme solcher Seligkeit als die wahrscheinlichere heute Gemeingut der Theologie (vgl. Suarez, De pecc. et vitiis disp. 9 sect. 6; Lessius, De perfect. Div. XII 22; Pohle I 486f). Gummersbach leitet überzeugend daraus die Lehre her, dass die Kinderseelen für immer in der Unsündlichkeit gefestigt und mit reichem eingegossenem Wissen begabt, leidensunfähig und nach der Auferstehung auch dem Leibe nach unsterblich sind. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VI, 1934, Sp. 577 – Sp. 578