Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Ratramnus
Rat(h)ramnus, Mönch in Corbie, wo er nach 825 eintrat, † nach 868. Fälschlich früher auch Bertramus genannt, woher der Name Bertramiten für die Anhänger seiner Lehre. Ratramnus hat an allen theologischen Kontroversen seiner Zeit Anteil genommen. Seine Schrift De eo quod Christus ex virgine natus est wendet sich gegen eine damals in Deutschland auftauchende, an Doketismus streifende Lehre, daß Christus den Schoß der Jungfrau nicht auf natürlichem Wege verlassen habe. Ratramnus ist bestrebt, sowohl das Übernatürliche wie das Natürliche der Geburt aus der Jungfrau zu wahren. In den Prädestinations-Streit des Gottschalk griff Ratramnus mit Libri duo de praedestinatione (850) ein. Er vertritt gegen Hinkmar v. Reims eine doppelte Prädestination, zur Beseligung und zur Verdammnis, schließt aber reine Prädestination zur Sünde und eine von Gott verursachte Notwendigkeit zu sündigen, bei den Reprobierten aus.
Eine wechselvolle Geschichte und Beurteilung hat De corpore et sanguine Domini aus dem ersten Abendmahlsstreit erfahren. Sie ist gegen das gleichnamige Werk des Paschasius Radbertus gerichtet, der, in der Tradition des Ambrosius stehend, die Realität des Leibes Christi nach der Verwandlung so sehr betont hatte, daß der Unterschied zwischen dem historischen und dem sakramentalen Leib nicht genügend hervor trat und eine kapharnaitische Auffassung sich auf ihn berufen konnte. Daher stellte Karl der Kahle an Ratramnus die Frage, ob der Genuss des Fleisches und Blutes Christi durch die Gläubigen „in mysterio an in veritate“ erfolge.
Ratramnus zerlegt diese Frage in 2 Unterfragen, nach denen er sein werk gliedert: 1) Ist das, was wir direkt sehen, der Leib Christi oder ist dieser unsern leiblichen Augen so verborgen, daß er nur mittels des Glaubens erfaßt werden kann? 2) Ist der sakramentale Leib völlig identisch mit dem gestorbenen und jetzt verklärten?
Die 1. Frage ist nicht die nach dem Verhältnis des eucharistischen Leibes zu den Gestalten von Brot und Wein, sondern die nach der Erkennbarkeit. Wenn darum Ratramnus die species visibilis der substantia invisibilis gegenüber stellt, so hat species nicht die später gewonnene Bedeutung. Weil Ratramnus nach dem Erkennen, nicht nach dem Sein fragt, lehnt er eine Gegenwart in veritate, d. h. bei ihm eine sinnlich wahrnehmbare, ab und bekennt eine solche in figura = verhüllt.
Bei der 2. Frage ist Ratramnus durch seinen Gegensatz zu Paschasius einer spiritualistischen Auffassung in seinen Ausführungen und Beweisen zu nahe gekommen. Die Verfechter einer nur symbolischen Gegenwart haben ihn daher nicht ganz zu Unrecht für sich in Anspruch genommen. Doch liegt es Ratramnus ferne, die reale Gegenwart zu leugnen. Das kleine Werk De anima weist nach, daß die Seele nicht wie ein Körper sich zum Raum verhält… –
Ratramnus zeichnet sich aus durch reiche Kenntnis der Väter und gewandte Darstellung. In den Lehrmeinungen ist er Augustinist, besonders im Prädestinations- und Abendmahlsstreit. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. VIII, 1936, S. 642 – Sp. 643