Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Hermann von Vicari
Vicari, Hermann von, Bekennerbischof, einer der Erneuerer des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert, * 13.5.1773 zu Aulendorf (Württemberg) aus treu-kirchlicher Familie, besuchte die Klosterschulen in Weingarten und Schussenried, bis 1789 das Lyzeum in Konstanz, ließ sich hier gleich nach Empfang der Tonsur ein Kanonikat an St. Johann übertragen, studierte 1790 – 91 Philosophie bei den Exjesuiten in Augsburg, wo er Wessenberg zeitweilig zum Mitschüler hatte, 1791-95 die Rechte in Wien, wo ihn der Febronianer Pehem in das Kirchenrecht einführte, betätigte sich als Assessor in der väterlichen Kanzlei zu Augsburg und Ulm, entschied sich 1797 endgültig für den geistlichen Beruf, promovierte in Dillingen zum Dr. jur. utr. Schon 1.10.1797 in Konstanz zum Priester geweiht, trat er sein Kanonikat an, widmete sich die nächste Zeit noch den theologischen Studien, wurde 1802 von Fürstbischof Dalberg alsAssessor und im selben Jahr als Geistlicher Rat (seit 1816 Offizial) in die bischöfliche Regierung übernommen, vorwiegend für die innere Verwaltung und Jurisdiktions-Geschäfte. Von Haus aus mehr zur Milde und Nachgiebigkeit geneigt, unterhielt er zu dem ihm geistig überlegenen Wessenberg, der Kirchenpolitik und Geist des Bistums bestimmte, gute Beziehungen, trat für dessen von Rom verworfene Wahl zum Kap.-Vikar auch amtlich ein und brachte ihn als Erzbischof von Freiburg in Vorschlag. Dabei wird Vicari`s strenge Kirchlichkeit auch für die Konstanzer Jahre von kritischen Zeugen bestätigt. Nach Errichtung der Erzdiözese Freiburg 1827 ins dortige Domkapitel berufen, 1830 Domdekan und 1832 Weihbischof. Sein Bemühen (durch Gutachten, Denkschriften und Verhandlungen, besonders als Mitglied der 1. Kammer), die Freiheit der Kirche gegen schroffes Staatskirchentum (Katholische Kirchensektion) zu erkämpfen und im Klerus, der weithin von Aufklärung beherrscht und zu radikalen Neuerungen (Zölibatssturm, Laiensynode) geneigt war, wieder kirchlichen Geist zu wecken, schien unter den schwachen Erzbischöfen Boll und Demeter und bei der Glaubens- und Disziplinlosigkeit mehrerer Theologie-Professoren fast hoffnungslos. Seine einstimmige Wahl nach Bolls Tod wurde von der Regierung abgelehnt (er sei „bei seinem timiden Charakter nicht stark genug“), seine nochmalige Wahl (15.6.1842) nach Demeters Tod aber sofort anerkannt, von Rom erst Januar 1843.
Das hohe Alter Vicaris, seine schwächliche Gestalt und der Mangel an Redegabe wurden überwogen durch unbeugsamen Willen, imponierende Charakterstärke, Pflichttreue und Geschäfts-Gewandtheit, durch gewinnende Liebenswürdigkeit, innerliche Bescheidenheit und kindliche Frömmigkeit. Er nahm die Firmungsreisen und Visitationen wieder auf, ordnete Pfarrkonferenzen und Volksmissionen an, gründete Diaspora-Pfarreien, erneuerte die Bildungs-Anstalten des Klerus, wehrte den Rongeanismus und die extreme Synodalbewegung ab und regelte 9.8.1845 gegen den staatlichen Protest die Mischehenfrage. Den Kampf gegen staatliche Bevormundung (Kirchenpragmatik v. 1830) leitete 1848 die Denkschrift der oberrheinischen Bischöfe ein, an deren Vorbereitung Vicari stärksten Anteil hatte. Sie verlangte Abschaffung des Placet, der staatlichen Verwaltung des Kirchenvermögens, der Staatsprüfung der Theologen und des allgemein landesherrlichen Patronats. Die dadurch geschaffene Spannung wurde wesentlich verschärft durch einen weiteren Konflikt, als Vicari beim Tod des Großherzogs Leopold 1852 statt eines von der Regierung gewünschten Seelenamtes nur eine einfache Trauerfeier anordnete und alle Gegenvorstellungen abwies. Als man weiterhin die kirchlichen Rechte nicht zurück gab, übte sie Vicari faktisch aus, exkommunizierte die katholischen Mitglieder des Oberkirchenrates und andere Staatsfunktionäre, wogegen die Regierung gegen ihm fügsame Geistliche scharf vorging. Der Kaiser von Österreich suchte eine Verständigung anzubahnen, Bismarck anderseits die badische Regierung zu energischem Einschreiten anzuspornen. Gegen Vicari wurde das Strafverfahren „wegen Amtsmissbrauchs“ eingeleitet, aber bald eingestellt und 8tägige Haft in seinem Palais über ihn verhängt (1854). Direkte Verhandlungen mit Rom brachten eine Einigung im Konkordat v. 28.6.1859. Nach dessen Fall durch die liberale Kammermehrheit wurde mit Gesetz v. 8.10.1860 und den Zusatz-Verordnungen v. 1861 die Pfründe-Besetzung neu normiert und die Verwaltung des Kirchenvermögens der gemeinsamen Aufsicht von Kirche und Staat unterstellt, unter Protest des Erzbischofs. Das Programm einer Schulreform (1863), das die Einschränkung des Religionsunterrichts, Aufhebung der obligatorischen geistlichen Ortsschulinspektion und fakultative Durchführung der Simultanschule vorsah, veranlaßte einen neuen Streit (vgl. Offizielle Aktenstücke über die Schulfrage in Baden I/V (1864/69)). Zahlreiche kirchliche Stiftungen für Schulen und karitative Zwecke wurden verstaatlicht, und in den letzten Lebenstagen Vicaris die Theologie-Studierenden zu einem Staatsexamen verpflichtet, was in der Folge den theologischen nachwuchs und teilweise die Seelsorge unterband.
War auch keine dieser grundsätzlichen Streitfragen bereinigt, als der bis zuletzt unbeugsame Greis am 14.4.1868 in Freiburg starb, so hat er doch durch Weckung und Festigung des kirchlichen Bewusstseins im Volk und Klerus den Geist der Aufklärung im Erzbistum beseitigt, die kirchlichen Rechte unerbittlich gewahrt und einsatzbereite Kräfte im katholischen Volk organisiert. Wer ihn in seinem lebenslangen Ringen nur als Werkzeug einer kampfeslustigen Umgebung, wie seines Hofkaplans Strehle und des Mainzer Bischof von Ketteler, hinstellt (Friedberg), verkennt völlig Vicaris eindrucksvolle Selbständigkeit und klare Festigkeit im Urteil und Handeln. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. X, 1938, Sp. 592 – Sp. 593