Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Besessenheit
Besessenheit, die Besitzergreifung des Leibes eines Menschen durch einen bösen Geist aus weiser Zulassung Gottes. Man unterscheidet hauptsächlich 2 Grade: Umsessenheit (circumsessio), d.i. eine Besitzergreifung durch den Dämon von außen her, und Besessenheit (obsessio), d.i. ein Innewohnen des Dämons, das aber nicht als hypostatische Vereinigung zu verstehen ist. Aus der biblischen Teufelsaustreibung durch Christus ( Mt. 9,32; 12, 22; Mk. 1, 34; 9, 20; Lk. 4, 41; 8, 27 usw.) folgt von selbst die Möglichkeit von Besessenen (daemoniaci), die überdies durch das bestätigt wird, was die spekulative Theologie über die Fähigkeiten und Kräfte der reinen Geister beweismäßig feststellt. Die rationalistische „Akkomodation“ (seit Semler) an den jüdischen Teufelsglauben widerstreitet der Wahrhaftigkeit und Heiligkeit des Gottessohnes (S. A. Calmet, De daemonibus corpora obsidentibus et possidentibus). Dennoch versucht die rationalistisch eingestellte Theologie und Medizin, die in der Hl. Schrift erwähnten Fälle von Besessenheit teils als bloße psychische Zwangsprozesse, teils als somnambule Persönlichkeits-Transformationen zu erklären. Für die natürliche Erklärung kann man eben geltend machen, daß der subjektive Eindruck bei wirklicher Besessenheit und bei bloßen Zwangsvorgängen ein ähnlicher sein wird. Beide Male geht neben der normalen Bewusstseinsreihe eine andere Reihe subjektiver Vorgänge einher, die aussieht, als sei sie fremden Ursprungs (…). Mithin ist nicht dieser Eindruck beweisend, sondern etwa das Vorkommen von körperlichen oder geistigen Leistungen, welche die natürlichen Kräfte des Menschen notorisch überschreiten.
Daß die Besessenheit während des öffentlichen Lebens Jesu besonders oft deutlich auftrat, entsprach dem Heilsplan Gottes. Der Herr kam im Fleisch, um den Fürsten dieser Welt hinaus zu werfen (Joh. 12, 31). Um diesen Feldzug gegen Beelzebub und seine Scharen sichtbar zu machen, ließ Gott die Herrschaft Satans in sichtbarer Weise sich austoben und dann unter lautem Zeugnis gegen den „Heiligen Geist“ (Mt. 1, 24; Lk. 4, 34) der Macht des Erlösers unterliegen. Aus demselben Grund wohl ließ Gott beim Vordringen der Kirche in die Heidenwelt Besessenheit und Teufelsaustreibung häufig in Erscheinung treten (Irenäus, Adv. Haer. II 32, 4; Tertullian, Apol. 32; s. Binterim VII 2, 180/310), wie auch heute noch Heidenmissionare über ähnliche Fälle aus ihrer Erfahrung berichten. Mag in diesen und manchen frühchristlichen Beispielen das Urteil schwanken zwischen Besessenheit und natürlichen Ursachen, so ist den evangelischen Berichten gegenüber dieses Schwanken abgesehen von obigem Angemessenheits-Grund schon wegen der Haltung Christi selbst unstatthaft. Zu den Gewalten, die Christus seinen Aposteln und Jüngern übertrug, gehörte die Teufel-Austreibung (Mt. 10, 1; Mk. 3, 10; Lk. 9, 1; 10, 17). Im christlichen Altertum wurden die Energumenen in besondere Behandlung genommen und für sie die niedere Weihestufe des Exorzistats gegründet. Nach geltendem Recht dürfen nur Priester Teufelsbeschwörungen vornehmen, und zwar erst nach bischöflicher Bevollmächtigung, um Irrungen, Verwechslungen mit krankhaften Naturzuständen (z. B. Besessenheits-Wahnsinn) und Ärgernis zu verhüten. –
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. II, 1931, Sp. 245 – Sp. 246