Private Offenbarungen – Gefahren der Täuschung
Man unterscheidet zwei Arten von Offenbarungen. Die eine Art, allgemeine Offenbarungen genannt, ist in der Heiligen Schrift und Tradition nieder gelegt und wird durch das Lehramt der Kirche uns übermittelt. Sie hörte auf mit dem Tode der Apostel und ist für alle Menschen Gegenstand des Glaubens. Die der andern Art heißen besondere, private Offenbarungen. Zu allen Zeiten gab es solche in der Christenheit. Nur mit diesen letzteren beschäftigen wir uns.
Die Kirche verpflichtet nie, an Privatoffenbarungen, die Heiligen zuteil wurden, zu glauben. Auch dann nicht, wenn sie dieselben bestätigt. Durch diese ihre Bestätigung erklärt sie bloß, daß in ihnen sich nichts gegen den Glauben und die guten Sitten findet, und daß man sie ohne Gefahr, ja sogar mit Nutzen lesen kann. „Es liegt ihr wenig daran“, sagt Melchior Canus, „ob man an die Offenbarungen der hl. Brigitta und anderer glaubt oder nicht. Das hat mit dem Glauben nichts zu tun.“ (De locis theologicis 1. 12, c. 3)
Benedikt XIV. behandelt diese Frage ganz genau. „Was hat man von den Offenbarungen zu halten, die der Heilige Stuhl approbiert hat, von denen der hl. Hildegard (von Eugen III. teilweise approbiert), der hl. Brigitta (von Bonifaz IX.), der hl. Katharina von Siena (von Gregor XI.)? Ich antworte darauf, daß ein Akt göttlichen Glaubens ihnen gegenüber weder notwendig noch möglich ist, sondern nur ein Akt menschlichen Glaubens, nach den Regeln der Klugheit, die sie uns als wahrscheinlich und fromm glaubwürdig (probabiles et pie credibiles) hinstellen. (De can 1. 3, c. 53, n. 15 und 1.2, c. 32, n. 11.)
Kardinal Pitra drückt sich geradeso aus: „Jeder weiß, daß man ganz frei ist, an Privatoffenbarungen zu glauben oder nicht zu glauben, selbst bei den allerglaubwürdigsten. Auch wenn die Kirche sie approbiert, werden sie bloß als wahrscheinlich, nicht als absolut sicher hingestellt. Sie dürfen nicht dazu dienen, unter Gelehrten strittige Fragen der Geschichte, der Physik, der Philosophie oder Theologie zu entscheiden. Man darf ruhig von diesen Offenbarungen abweichen, selbst von den approbierten, wenn man sich auf solide Gründe stützt, wenn die entgegen stehende Meinung durch sichere Dokumente und eine sichere Erfahrung bewiesen ist.“ (Buch über die hl. Hildegard 16.) Die Bollandisten stellen dieselben Grundsätze auf. (25. Mai, S. 243, n. 246 und S. 246, n. 1.)
Da also die Kirche die Verantwortlichkeit für sie nicht übernimmt, so bleibt die Frage: „Welche Autorität haben dann schließlich die Privatoffenbarungen?“ Sie haben den Wert des Zeugnisses der Person, welche sie berichtet, nicht mehr und nicht weniger. Diese Person ist aber niemals unfehlbar. Daraus ergibt sich klar, daß dasjenige, was sie berichtet, niemals auf absolute Sicherheit Anspruch machen kann. Nur wenn Gott direkt zur Bekräftigung dieser Offenbarungen ein Wunder wirkte, hätten wir eine Ausnahme. Also kurz gesagt, Privatoffenbarungen geben nur eine menschliche moralische Sicherheit. (P. Toulemont, Ètudes 1866, 61.) –
aus: August Poulain SJ, Die Fülle der Gnaden, Bd. 2, 1910, S. 32 – S. 34