Prophetien in der Heiligen Schrift
Von der Art des prophetischen Schauens
Genau genommen, sind zwei Arten der Prophetie zu unterscheiden, die allerdings in der Wirklichkeit sehr ineinander überfließen. Die einfache Prophezeiung sagt ein zukünftiges Einzelereignis mehr oder minder deutlich voraus, meist nicht mit direkten Worten, sondern in einem Bilde. Die höchste Form der Prophetie, die Apokalypse, beschäftigt sich mit dem Weltgeschehen als Ganzem und mit Gottes Gericht über dasselbe. Der Prophet, der sie schaut, befindet sich in einer Art Ekstase. In dieser sieht er aber nicht den Ablauf der späteren Geschichte als solcher, sondern er erhält Einblick in die diesem Ablauf zu Grunde liegenden göttlichen Pläne. Das hat mehrere Wirkungen auf die Art des prophetischen Erkennens, aus denen allein sich die Prophetie verstehen läßt. Zunächst besteht in Gottes Plänen kein zeitliches Nacheinander wie in deren geschichtlicher Verwirklichung, sondern nur eine innere, logische Folge. Sie selbst sind alle gleich ewig. Daher schaut der Prophet ohne zeitliche Perspektive. Das heißt er erkennt zwar die Ereignisse in ihrem inneren Zusammenhang (Ursache und Wirkung), aber nicht in ihrem zeitlichen Getrenntsein. Deshalb verknüpft er unter Umständen Ereignisse unmittelbar miteinander, die in ihrem geschichtlichen Verlauf durch Jahrtausende voneinander getrennt sind. Noch wichtiger ist ein Zweites: Gottes Gedanken verwirklichen sich meist nicht nur in einem einzigen geschichtlichen Ereignis, sondern sukzessive in einer ganzen Folge von innerlich zusammen hängenden, von der gleichen Ursache herrührenden und zum gleichen Ziel hinführenden Ereignissen. Daher kommt es, daß oft eine Prophezeiung in mehreren Geschehnissen ihre Erfüllung findet.
So z. B. gerade die in Matth. 24, 15 erwähnte Prophezeiung Daniels von dem „Gräuel der Verwüstung“, die zum ersten Mal erfüllt wurde, als der Syrer Antiochus Epiphanes im Jahre 168 v. Chr. auf dem Brandopfer-Altar des Tempels einen kleinen Zeusaltar errichten ließ, auf welchem dem Zeus Opfer dargebracht wurden (1 Makk. 1, 54 ff.; vgl. 2 Makk. 6, 1 ff.). Dadurch werden diese ersten Erfüllungen im Auge des Propheten selbst wieder zu weissagenden Typen der ferneren Zukunft. Daher zahlreichen sogenannten typischen Weissagungen, besonders die typisch-messianischen Weissagungen, wo der Prophet zwar einen wirklichen menschlichen König vor Augen hat, diesem aber Attribute beilegt, die zunächst als Hyperbeln erscheinen, ihren ganzen Sinn aber erst im Messias entfalten, dessen Vorbild jener menschliche König darstellt. Der Prophet sieht in solchen Fällen zwei oder mehrere Bilder gleichsam übereinander gelegt und ineinander verschwimmend, bzw. er blickt durch das eine Bild hindurch auf das zweite, so daß er selbst die Einzelzüge dieser Bilder nicht zu unterscheiden imstande ist. Dazu kommt ferner, daß die Zukunft sehr oft überhaupt nur im symbolischen Bildern geoffenbart wird, deren Gestalten und Farben aus dem Gesichtskreis des Propheten, aus Zeitereignissen entstammen. Berühmt ist die Gerichts-Prophezeiung des Joel unter dem Bild einer Heuschrecken-Plage, die gerade damals das Land heimgesucht hatte (Joel Kap. 1 u. 2). Da ist es für den Ausleger oft ganz unmöglich, Symbol und wirkliches Zukunftsbild voneinander zu trennen.
Es liegt auch gar nicht in der Absicht der Prophezeiung, ein Vorherwissen der Zukunft zu vermitteln. Nur ein geheimnisvolles Ahnen will sie geben, um ihre Hauptabsicht zu erreichen, nämlich in den Gemütern der Hörer und Leser eine heilsame Furcht und zugleich auch einstarkes Vertrauen auf den Gott zu erzeugen, der aus seiner Ewigkeit heraus die Geschicke der Menschen und Völker mit unwiderstehlicher Allmacht lenkt. Erst wenn die Prophezeiung durch die Geschichte ihre letzte Deutung erhalten hat, wird sie ganz verständlich und damit für die theologische Beweisführung geeignet. So z. B. werden manche gänzlich dunkle und doch textkritisch gesicherte Stellen des Alten Testamentes erst klar durch das geschichtliche Leben Jesu, über das sie eine verhüllte Weissagung enthalten. Und damit sind dann ebenso klar und erwiesen sowohl der übernatürliche Charakter jener Stellen, als auch die Messianität Jesu. Nach diesen Vorbemerkungen wird es nun auch möglich sein, diese eschatologische Rede Jesu richtig aufzufassen. (*) –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XI.2, 1936, S. 66- S. 68
(*) Matth. 24, Vers 15-35