Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Bolingbroke
Bolingbroke, Harry, Baron St. John, Viscount von Bolingbroke, ungläubiger Schriftsteller, geboren 1672 zu Battersea, einem Dorf an der Themse in Surreyshire, studierte zu Oxford, beschäftigte sich dabei besonders mit der Dichtkunst und den schönen Wissenschaften und führte ein sehr lockeres und ausschweifendes Leben. Von seiner ersten reichen Gattin trennte er sich bald wieder. Im Jahre 1700 wurde er Parlaments-Mitglied und begann damit seine ebenso glänzende, als wechselnde Staats-Laufbahn. Im Jahre 1704 wurde er Kriegssekretär, wußte durch Einfluß auf die Königin das Ministerium zu stürzen, wurde 1710 zum Staatssekretär, 1712 zum Viscount und bald darauf zum Lord-Lieutenant der Grafschaft Essex ernannt. Als 1714 mit Georg I. das Haus Hannover, dem er scharf entgegen gearbeitet hatte, zur Regierung kam, wurde er abgesetzt, des Hochverrats angeklagt und seiner Güter beraubt. Er hatte sich nach Frankreich geflüchtet. Der Prätendent Jakob III. nahm ihn als Minister an, schenkte ihm aber kein volles Vertrauen und entließ ihn wieder. Nun trat König Georg mit ihm in Unterhandlung; er erlangte 1723 die Erlaubnis, nach England zurück zu kehren, und erhielt 1725 auch seine Güter zurück. Jedoch gelang es ihm nicht mehr, wieder ins Ministerium und in das Oberhaus einzutreten. Seine politische Wirksamkeit auf Volk und Parteien übte er nunmehr durch sprühende Schriften aus. Von 1736 bis 1742 hielt er sich wieder in Frankreich auf, kehrte dann nach England zurück und lebte fortan in literarischer Beschäftigung auf seinen Gütern. Er starb nach einer langen und quälenden Krankheit zu Battersea 1751. Im Jahre 1754 erschienen seine philosophischen Schriften in fünf Bänden, und 1769 seine Gesamtwerke in elf Bänden. Die große englische Jury verwarf seine Schriften als der Religion, den Sitten, dem Staat und der öffentlichen Ruhe gefährlich. Zu seinen sehr parteiisch gehaltenen, politischen Schriften gehören: Betrachtungen über das Exil; Geheime Memoiren über die Angelegenheiten Englands von 1710 bis 1716; Ideen eines patriotischen Königs; Abhandlungen über die Parteien. Seine philosophisch-religiöse Richtung charakterisiert sich schon dadurch, daß Voltaire ihm 1727 sein Trauerspiel „Brutus“ widmete. Großes Aufsehen machte seine Schrift „Briefe über das Studium und den Nutzen der Geschichte“ (Letters on the Study und Use of History, London 1738). Bolingbroke gehörte dem englischen Deismus an, bildet aber auch gewissermaßen einen Abschluss desselben, indem er ihn immer mehr der eigentlichen Gottesidee entkleidete und zu dem französischen Enzyklopädismus überleitet. Er leugnet, daß es eine göttliche Offenbarung gebe, leugnet, daß Gott sich um den einzelnen Menschen bekümmere, leugnet die Unsterblichkeit der Seele, leugnet den Unterschied zwischen Tugend und Laster, leitet alle Handlungen aus den Triebfedern der Selbstsucht her, erkennt im Alten Testament nur Aberglauben und Betrug, findet in den Evangelien viel natürliche Wahrheit, beim Apostel Paulus dagegen ungereimte und gotteslästerliche Dinge, tadelt das Christentum, daß es die Vielweiberei verbiete, u. dgl. m., alles mit den einseitigsten und verbittertsten Demonstrationen, aber mit solchem Glanz der Darstellung, solchem Reichtum des Geistes, des Witzes und der Erfahrungen, daß die Wirksamkeit seiner Schriften nicht ausbleiben konnte. Von festen einheitlichen Prinzipien und systematischem Ganzen kann bei solchem Gebaren keine Rede sein; das Wesen besteht in kecker Negation des Positiven und in willkürlichen, rationalistisch verbrämten Phantasie-Geweben. Man tut solchen Behauptungen und Negationen viel zu viel Ehre an, wenn man darin ein eigentliches philosophisches System suchen und widerlegen will. Natürlich wurde Vieles gegen Bolingbroke geschrieben; so von Leland, Young, Clayton, Warburton, Harvey u.a. Ein besonderes Buch über ihn erschien von Th. Hunter, London 1770. –
Quelle: Wetzer und Welte`s Kirchenlexikon, Bd. 2, 1883, Sp. 985 – Sp. 986