Lexikon für Theologie und Kirche
Stichwort: Gratry
Gratry, Aug. Jos. Alphonse, französ. Philosoph und Moraltheologe, * 30.3.1805 zu Lille, † 7.2.1872 zu Montreux; erst Artill.-Offizier, 1832 in Straßburg Priester und Professor am Kl. Seminar, 1841 Leiter des Coll. Stanislas in Paris, 1846-51 ebd. Religionslehrer an der Ecole normale, begründete 1852 das Oratorium v. d. Unbefleckten Empfängnis, 1863 Professor an der Sorbonne; 1867 Mitglied der Akademie. Wie Lamennais sah Gratry in der Rückkehr zur priesterlichen Lebensgemeinschaft (Straßburger Kreis um Bautain, Wiederaufrichtung des Oratoriums) ein Mittel, Individualismus und Auseinandertreten von Glauben und Wissen zu überwinden. Er erkannte die kritische Lage, in welche die kartesianisch inspirierte französische Theologie und Kirche durch die einströmende pantheistisch-naturalistische Identitäts-Philosophie (Hegel!) kamen, kämpfte gegen Vacherot und Renan und strebte (zwischen J. de Maistre und dem Neuthomismus) zu einer die raison raisonnante überwindenden Ganzheits- und Seinsphilosophie zurück, zu der ihn Thomas, Leibniz und Herder anregten. Als Mathematiker glaubte er an die wesenhafte Identität des allgemeinen Induktivverfahrens mit der infinitesimalen Analyse und wollte dementsprechend das Transzendente durch die induktive oder infinitesimale Methode, die vom Sinn des Unendlichen selbst bedingt sei, beweisen. Optimistisch-sozial, ökumenisch eingestellt, ebenso emotional wie intellektuell veranlagt, wirkte er als Erwecker der Jugend und Vorkämpfer wissenschaftlichen, sozialen und politischen Fortschritts bis heute nach (Sillon, seit 1894; Gratry-Gesellschaft für den Frieden, 1906). Beitritt zur Ligue de la Paix, Gegnerschaft gegen die Unfehlbarkeits-Erklärung und Herzenskrisen brachten dem alternden Mann Sturm, ohne ihn aus der katholischen Bahn zu schleudern. Hauptwerke: De la connaissance de Dieu (2 Bde, 1853 u. ö., dtsch. 1858); Logique (2 Bde, 1855; dtsch: Über die Erkenntnis des Menschen in seiner Denktätigkeit, 1859); De la connaissance de l`ame (2 Bde, 1857 u. ö.; dtsch. 1859); Les sophistes et la critique (1864); als 6. Buch der Logik Les sources (1861/62; dtsch. v. E. Scheller, 1925); bis heute viel aufgelegt, der religiösen Erweckung der Jugend dienend; La philosophie du Credo (1861, 1926; dtsch. v. E. Scheller, 1928); La Paix, méditations hist. et relig. (1861), begründet den christlichen Pazifismus; La morale el la loi de l`histoire (1868; neue Ausg. 1909); Le mois de Marie (1859, 1916; dtsch. v. E. Scheller, 1932).
aus: Michael Buchberger, Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. IV, 1932, S. 652-653