Pius XI.: Die Kirche und der Friede (Der Friede Christi im Reich Christi) – „Ubi arcano“ v. 23.12.1922
Papst Pius XI.
Auszug
2. Der Inhalt des Rundschreibens ist die Wiederherstellung des wahren Friedens nach dem Weltkrieg.
Diese frohen und traurigen Ereignisse, deren Gedächtnis Wir der Nachwelt überliefern wollen, waren Uns eine Mahnung und ließen Uns immer deutlicher die dringlichste Aufgabe Unseres Pontifikates erkennen, und Uns darüber klar werden, was Wir Euch in Unserem ersten Rundschreiben sagen müssten. Dies nämlich ist aller Welt klar: weder die einzelnen Menschen, noch die Gesellschaft, noch die Völker haben nach dem Kriegsunglück bisher den wahren Frieden gefunden. Immer noch ersehnen sie jenen Zustand tätiger und nutzbringender Ruhe, die alle Welt anstrebt.
3. Um den Frieden zu erreichen, müssen zunächst die Übel, die ihn verhindern, ins Auge gefasst und deren Ursachen aufgedeckt werden.
Will man aber, wie es Unsere Absicht ist, ein geeignetes Heilmittel finden, so muss man zunächst die ganze Größe und Schwere des Übels genau übersehen, dann dessen innerste Ursachen erforschen. Dies wollen wir in diesem Rundschreiben tun, wie es Unser Apostolisches Amt Uns zur Gewissenspflicht macht, und wollen darin auch fernerhin nicht nachlassen.
Ohne Zweifel bestehen auch heute noch dieselben Zeitverhältnisse, welche Unsern hochseligen Vorgänger Benedikt XV. Während seines ganzen Pontifikates so sehr bekümmerten; deshalb liegt es nahe, dessen Gedanken und Ratschläge in dieser Hinsicht zu den Unsrigen zu machen. Möchten doch alle Gutgesinnten mit Uns einig sein in diesem Wunsch und Ziel und sich mit regem Eifer an Unserm Gebet um eine wahre und dauernde Versöhnung unter den Menschen beteiligen.
II. Die Übel der Zeit
1. Der Geist des Hasses lässt die Völker nicht zur Ruhe kommen
Auf unsere Zeit passen ganz vorzüglich jene Worte der Propheten: „Wir hofften auf den Frieden und nichts Gutes ist`s; auf die Zeit der Heilung und siehe, Schrecken kommt“ (Jer. VIII, 15); „Auf die Stunde der Genesung, und siehe, da kommt Angst“ (Jer. XIV, 19), „wir hofften auf das Licht, und siehe Finsternis … auf das Gericht, und es kommt nichts; auf das Heil, und es weicht von uns“ (Is. 59, 9, 11).
a) Im Orient herrschen Elend, Schrecken und Kriegsgefahr
Hat man in Europa auch vor kurzem die Waffen niedergelegt, so bricht doch, wie Ihr wisst, im nahen Orient neue Kriegsgefahr herein; dort und auf weiten Strecken der Erde lasten, wie Wir schon sagten, Schrecken und Elend; zahllose Unglückliche, besonders Greise, Frauen und Kinder, gehen täglich an Hunger, Pest und Plünderungen zu Grunde.
b) Das Abendland leidet unter den Kriegsfolgen und unter dem Hass der Besiegten und der Sieger untereinander
Wo aber kürzlich noch der Krieg tobte, sind die alten Feindschaften keineswegs erloschen, sie werden wieder wach, teils in versteckter Form in der Politik und im Wirkschaftsleben, teils offen in Zeitungen und Zeitschriften; ja sogar auf jene Gebiete greifen sie über, die ihrer Natur nach jedem herben Streit fern liegen, wie Kunst und Wissenschaft. Dieser gegenseitige Hass und Streit unter den Staaten lässt die Völker nicht zur Ruhe kommen. Die Sieger leben im Streit nicht nur mit den Besiegten, sondern auch untereinander; die Schwächeren beklagen sich über Unterdrückung und Übervorteilung durch die Stärkeren, diese wiederum über den Hass der Schwächeren.
Die Schäden des Krieges aber verspüren alle insgesamt, auch die Neutralen, am meisten aber die Besiegten. Und sie werden von Tag zu Tag unerträglicher, da die Heilung sich verzögert, zumal die bisherigen mehrfachen Versuche und Konferenzen der Staatsmänner zur Beseitigung des Übels keinen Erfolg hatten, ja sogar, wie man glaubt, den bisherigen Zustand verschlimmerten. So wächst die Angst vor neuen, noch schrecklicheren Kriegen und zwingt alle Staaten, sich in Kriegsbereitschaft zu halten. Dadurch erschöpft sich die Geldkraft, die Volkskraft wird vergeudet, Wissenschaft, Religion und Sittlichkeit werden aufs schwerste geschädigt. Damit nicht genug, bedroht neben diesen äußeren Feindschaften auch innerer Hader die Staaten und die bürgerliche Gesellschaft überhaupt mit dem Untergang.
2. Innerer Hader bedroht die Staaten und die Gesellschaft
a) Durch Klassenkampf.
7. An erster Stelle steht hier der Klassenkampf, der sich wie ein tödliches Geschwür ins innerste Leben der Nationen eingefressen hat und Industrie, Gewerbe, Handel, kurz alle Quellen des privaten und öffentlichen Wohlstandes vergiftet. Dieses Übel wird noch gefährlicher durch die wachsende Gier nach äußeren Gütern, den Geiz und die beiden gemeinsame Begierde nach Besitz und Macht. Daher die häufigen, freiwilligen oder erzwungenen Arbeitseinstellungen, daher auch die Volksaufstände und öffentlichen Zwangsmaßnahmen zum großen Schaden und zur Beunruhigung der Allgemeinheit.
b) Durch Parteikämpfe.
Sodann bekämpfen sich gewöhnlich innerhalb des Staates die Parteien, nicht weil sie je nach ihrer Anschauung aufrichtig das Gemeinwohl im Auge haben, sondern um ihren eigenen Vorteil zu erstreben, und sei es zum Verderben der andern. Ist es da verwunderlich, dass Verschwörungen sich häufen, Ränke und Gewalttaten gegen Volksgenossen, ja sogar gegen die Obrigkeit verübt werden, Terror, Bedrohung, offene Empörungen und andere Übergriffe überhand nehmen?
Und alles das ist umso verderblicher, je mehr Anteil das Volk an der Staatsleitung hat, wie dies bei den heutigen Staatsverfassungen der Fall ist. Zwar verwirft die Lehre der Kirche diese Staatsform nicht — wie überhaupt keine Einrichtungen, die dem Recht und der Vernunft gemäß sind — aber es ist doch einleuchtend, dass diese (demokratische) Staatsform dem schlimmen Treiben der Parteien Tor und Tür öffnet.
c) Durch Zerrüttung der Familie.
Aufs tiefste zu beklagen ist, dass diese Seuche schon die tiefsten Wurzeln der menschlichen Gesellschaft ergriffen hat, die Familie. Zwar hatte deren Zerrüttung schon lange vorher begonnen, aber sie wurde gesteigert durch das namenlose Elend des Krieges, der Väter und Söhne in die Ferne zerstreute und die Sittenverderbnis auf mannigfache Weise vermehrte. Daher wird die väterliche Autorität kaum geachtet und die Bande des Blutes haben ihren Wert verloren; Herrschaften und Dienstboten stehen sich feindselig gegenüber; die ehemalige Treue selbst wird nur allzu oft verletzt, die Pflichten der Eheleute gegen Gott und die menschliche Gesellschaft werden missachtet.
d) Durch moralische Zersetzung des Einzelmenschen.
Wie aber eine Krankheit, wenn sie den Körper oder einen seiner edleren Teile erfasst hat, notwendig auch die letzten Glieder in Mitleidenschaft zieht, so muss ein Übel, an dem die Familie und die Gesellschaft leidet, auch den Einzelmenschen ergreifen. Jeder weiß, von welcher geistigen Unruhe die Menschen jeden Alters und Standes befallen sind; sie sind reizbar und anspruchsvoll; der Widerwille gegen Unterordnung und Arbeit ist allgemein; die Schranken der Sittlichkeit, namentlich in Kleidung und Tanz, werden durch leichtfertige Frauen und Mädchen missachtet, deren herausforderndes Gebaren den Hass der Mittellosen erregt. Die Masse der Armen endlich wird immer größer und führt dem Heer des Umsturzes immer neue, gewaltige Scharen zu.
Also an Stelle von Vertrauen und Sicherheit gefährliche Unruhe und ängstliche Sorge; an Stelle geregelter Arbeit Trägheit und Müßiggang; an Stelle von Ruhe und Ordnung, die den Frieden gewährleisten, allgemeine Unordnung und Verwirrung. Darum sehen wir die Industrie brachliegen, den Welthandel erlahmen, Künste und Wissenschaften ermatten. Und was schwerer wiegt: die christliche Lebensführung kennt man vielerorts nicht mehr; dafür hat aber die Menschheit den Gipfel des so gerühmten Fortschritts nicht erreicht, sondern scheint in wildes Barbarentum zurückzufallen.
3. Das religiöse Leben ist gefährdet
a) Im Allgemeinen.
Zu all diesen erwähnten Übeln gesellen sich, wie um das Maß voll zu machen, noch jene hinzu, „für die der sinnliche Mensch kein Verständnis hat“ (1. Kor. II, 14), die Wir aber gleichwohl zu den schlimmsten der Gegenwart zählen müssen: Wir meinen die Schäden auf dem Gebiet der eigentlich geistigen und übernatürlichen Ordnung, mit der das Leben der Seele verbunden ist, und deren Zerstörung bei weitem beklagenswerter ist als die Schäden auf materiellem Gebiet, genau in dem Maße, wie der Geist den Vorrang hat vor dem Stoff.
b) Durch Zweckentfremdung kirchlicher Gebäude.
Denn abgesehen von den schon erwähnten weitverbreiteten Vernachlässigungen der Christenpflichten, welcher Schmerz ist es für Uns und Euch, Ehrwürdige Brüder, zu sehen, wie so viele Kirchen, die der Krieg zu profanen Zwecken verwendet hat, ihrer heiligen Bestimmung noch nicht zurückgegeben worden sind; wie zahlreiche Seminarien, die der religiösen Erziehung der Führer und Lehrer des Volkes dienen sollen und eben damals geschlossen worden waren, bis zur Stunde noch nicht geöffnet werden können.
c) Durch Priestermangel.
Die Reihen der Priester sind fast überall gelichtet — die einen hat der Krieg mitten aus ihrem heiligen Amt herausgerissen, die anderen sind durch Pflichtvergessenheit und schwere Verfehlungen verdorben —, infolgedessen ist vielerorts die Predigt des göttlichen Wortes verstummt, die doch zum „Aufbau des Leibes Christi“ (Ephes. IV. 12) so notwendig ist.
d) Durch Hemmung der Missionstätigkeit.
Unsere Missionare wurden in großer Zahl von den fernsten Teilen der Erde und aus dem Dunkel der Barbarei, wo sie im Dienste der Religion und Gesittung die herrlichsten Früchte ihrer schweren Mühen ernteten, in die Heimat berufen, um am Kriege teilzunehmen, und wenige nur sind zu ihren Stationen zurückgekehrt.
Wohl wurden diese Verluste teilweise aufgewogen durch edelste Wirkungen: denn im Gegensatz zu den Verleumdungen der Gegner wurde die lebendige Vaterlandsliebe des Klerus und sein hervorragendes Pflichtbewusstsein offenkundig, und sehr viele, die Tag für Tag so herrliche Beweise priesterlichen Eifers und Edelmutes sahen, söhnten sich im Angesicht des Todes mit Kirche und Priester aus. Und gerade darin muss man die Güte und Weisheit Gottes bewundern, der allein auch das Böse zum Guten zu kehren vermag.
IIl. Die Ursachen der Zeitübel
Soviel über die Übel unserer Zeit. Wir wollen nun ausdrücklich deren Ursachen erforschen, wenngleich wir diese, wie es notwendig war, schon gestreift haben. Da kommt es Uns gleich im Anfang vor, als ob Wir den Tröster und Arzt menschlicher Schwachheit die Worte wiederholen hörten: „All dieses Böse kommt aus dem Innern“ (Mark. VII, 23).
1. Der Scheinfriede konnte den Hass nicht verbannen
Gewiss wurde der Friede unter den Kriegführenden durch einen feierlichen Vertrag geschlossen; aber nur in öffentlichen Urkunden, nicht in den Herzen der Menschen wurde er besiegelt. Dort lebt der Geist des Krieges auch heute noch weiter und schwillt zu einer gefährlichen Flut an, welche die menschliche Gesellschaft von Tag zu Tag mehr bedroht. Denn allzu lange nur hat überall das Recht der Gewalt triumphiert und jene Gesinnungen der Güte und Barmherzigkeit zum Schweigen gebracht, welche die Natur den Menschen eingepflanzt und das Gesetz der christlichen Liebe vervollkommnet hat; und diese hat jener Friedensschluss, der eine Versöhnung nur dem Schein nach, nicht in Wirklichkeit, herbeigeführt hat, nicht im mindesten wieder zur Geltung gebracht.
So sehen wir bei den meisten Menschen die lange Gewöhnung an den Hass wie eine Naturkraft weiterwirken; und jenes blinde Gesetz herrscht heute, über das der Apostel Paulus seufzt, weil es dem Gesetz des Geistes in seinen Gliedern widerstreitet. Der Mensch ist leider nur zu oft dem Menschen feind und fremd, und nicht Bruder, wie Christus will. Die Würde und Persönlichkeit des Menschen wird kaum berücksichtigt, Kraft und Zahl allein haben Wert. Der eine sucht den andern zu unterdrücken, um möglichst viel von den Gütern dieses Lebens zu erraffen.
Wie sollte es auch anders sein? Nichts ist so verbreitet als die unersättliche Gier nach dem Flüchtigen und Vergänglichen, die Missachtung jener ewigen Güter, die Christus, der Herr, durch seine Kirche allen Menschen fortgesetzt anbietet.
2. Die Gier nach irdischen Gütern vergiftet den Einzelmenschen und die Gesellschaft
Nun ist es aber so, dass das ungeordnete Verlangen nach äußeren Gütern die Quelle aller Übel ist, insbesondere des Sittenverfalls und der Zwietracht. Denn, da sie an sich wertlos und nichtig sind, können sie dem wahren Verlangen des Herzens nicht Genüge tun, welches, von Gott und zum Genuss seiner Herrlichkeit geschaffen, niemals zu vollkommener Ruhe gelangen kann, bis es im Schoße Gottes ruht. Ferner sind jene Güter nur in beschränktem Maße erreichbar; je mehr sich in ihren Besitz teilen, um so weniger erhält davon der einzelne; wo wohingegen die geistigen Güter, auch unter mehrere aufgeteilt, alle bereichern, ohne sich zu vermindern.
Daraus ergibt sich, dass die irdischen Dinge, da sie weder alle in gleicher Weise, noch irgendeinen völlig befriedigen können, notwendig zur Ursache von Streit und Bitterkeit werden, in Wahrheit zur „Eitelkeit der Eitelkeiten und zur Geistesplage“ (Eccles. I, 2, 14), wie sie Salomo, der Weiseste von allen, aus eigener Erfahrung genannt hat. Was für den einzelnen gilt, trifft auch für die Gesellschaft zu. „Woher Kampf und Streit unter Euch?“, sagt der Apostel Jakobus, „nicht daher etwa, aus eurer Begehrlichkeit?“ (Jak. IV, 1).
Denn die Fleischeslust, die Gier nach Genuss, ist die gefährlichste Seuche, welche Familie und Staaten verpestet; die Augenlust, die Gier nach Besitz, ist die Quelle gehässiger Klassenkämpfe und eigennütziger Bestrebungen, die Hoffart des Lebens, die Gier nach Macht, ist die Ursache wütender Parteikämpfe, die sogar vor Majestätsverbrechen, Hochverrat, ja selbst vor Empörung gegen das Vaterland nicht halt machen.
3. Die Selbstsucht erzeugt maßlosen Nationalismus
Gerade diese ungeordneten Begierden, die natürlich unter dem Vorwand des öffentlichen Wohles und der Vaterlandsliebe sich verstecken, tragen auch die Schuld an der Eifersucht und den Feindschaften der Völker untereinander. Denn, wenn auch die Liebe zu Volk und Vaterland ein kräftiger Ansporn zu mancherlei Tugenden und heldenmütigen Taten sein kann, sofern sie das Gesetz Christi zur Richtschnur hat, so wird sie doch zur Quelle des Unrechts und zahlreicher Ungerechtigkeiten, wenn sie, die gebührenden und rechten Grenzen überschreitend, zum maßlosen Nationalismus sich auswächst.
Wer diesem verfallen ist, vergisst, dass alle Völker wie Glieder einer gemeinsamen Familie zu brüderlicher Gemeinschaft unter sich verbunden sind; er vergisst, dass auch andere Völker ein Recht auf Leben und einen Anspruch auf Gedeihen haben, und dass man nicht ohne Schaden den Vorteil vor das sittlich Gute setzen darf. Denn „die Gerechtigkeit erhöht die Völker, die Sünde aber macht sie elend“ (Spr. XIV, 34).
Mag auch ein Nutzen, der um den Preis der Benachteiligung der anderen für die Familie, die Gesellschaft oder den Staat erwirkt worden ist, in den Augen der Menschen als hervorragend und großartig erscheinen, so wird er doch keinen Bestand haben, sondern immer vom Untergang bedroht sein, wie Augustinus so weise mahnt, indem er sagt: „Es ist eine Freude wie Glas, glänzend und zerbrechlich, immer in Gefahr, plötzlich und schrecklich zu zerschellen“ (De Civ. Dei IV 3).
4. Die tiefere Ursache liegt in der Abkehr von Gott
Wir müssen noch eindringlicher als bisher den Gründen nachgehen, weshalb unsere Zeit dem Frieden noch so fern ist und nach der Heilung so vieler Übel sich sehnt.
Schon lange vor dem europäischen Krieg war die eigentliche Ursache so großen Unheils durch die Schuld der einzelnen und der Gesellschaft wirksam, und wenn nur alle die Zeichen jener furchtbaren Katastrophe verstanden hätten, dann hätte gerade diese auch ihre Quelle für immer versiegen lassen müssen. Wer kennt nicht das Schriftwort: „Die der Herr verlassen, sind des Todes“ (Is. I, 28) und das tiefernste Wort Jesu, des Erlösers und Lehrers der Menschen: „Ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh. XV, 5) sowie: „Wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut“ (Lk. XI, 23).
Die Gottlosigkeit untergrub
a) Die Autorität des Staates.
Diese Gottesworte haben sich zu allen Zeiten bewahrheitet, heute aber erfüllen sie sich vor aller Augen. Weil die Menschen zu ihrem Elend von Gott und Jesus Christus abgefallen sind, deshalb sind sie aus dem früheren Wohlstand in diesem See von Plagen versunken; deshalb sind alle Versuche, die Schäden zu heilen und aus einem so gewaltigen Zusammensturz das Letzte zu retten, meistens ohne Erfolg.
Hat man einmal Gott und Jesus Christus aus der Gesetzgebung und dem staatlichen Leben verbannt, leitet man die Autorität nicht mehr von Gott, sondern von den Menschen ab, dann entzieht man auch den Gesetzen ihre wahre und unerschütterliche Kraft, die Gehorsam sichert, und die erhabensten Rechtsgrundlagen — selbst heidnische Philosophen wie Cicero haben erkannt, dass diese Grundlagen im ewigen Gesetz Gottes ihren Ursprung haben müssen — ja, die Grundlage der Autorität selbst wird zerstört, wenn man ihren Ursprung leugnet, der zuallererst den einen das Recht verleiht zu befehlen, den anderen die Pflicht auferlegt zu gehorchen.
So musste notwendig das ganze Gesellschaftsgebäude ins Wanken geraten, da es jeder festen Stütze entbehrte und schutzlos den um die Herrschaft kämpfenden Parteien preisgegeben war; diese aber haben nur ihren Vorteil, nicht das Wohl des Vaterlandes im Auge.
b) Die Heiligkeit der Ehe.
Ebenso verwarf man Gott und Jesus Christus als die Grundlage der Familie, indem man die Ehe zu einem bürgerlichen Vertrag erniedrigte, während Christus sie zu einem großen Sakrament (Eph. V, 32) gemacht hatte und zum heiligen und heiligenden Sinnbild jenes Bandes, das ihn selbst mit seiner Kirche unlöslich verbindet.
Die Folgen davon liegen offen zu Tage: das Verständnis für Religion verdunkelt sich mehr und mehr beim Volk; der religiöse Sinn, den die Kirche in die Keimzelle der Gesellschaft, die Familie, eingegossen hatte, stumpft ab; die häusliche Ordnung und der häusliche Friede wird zerstört; die Einheit und Dauerhaftigkeit der Familie gerät immer mehr ins Wanken; die Heiligkeit der Ehe wird so häufig durch schmutzige Leidenschaften und lebenzerstörende, niedrige Selbstsucht verletzt und so die Quellen des Lebens selbst in Familie und Volk vergiftet.
Die christliche Erziehung der Jugend.
Schließlich schaltete man Gott und Christus bei der Erziehung der Jugend aus; daraus folgte notwendig, dass die Religion nicht nur aus den Schulen verschwand, sondern dass sie sogar versteckt oder offen bekämpft wurde; die Kinder mussten so die Überzeugung gewinnen, alles, was die Religion angehe, sei zum guten Leben nur wenig oder gar nichts wert; hörten sie doch darüber gar nicht oder nur mit Verachtung reden. Ist aber einmal Gott und göttliches Gesetz aus dem Unterricht verbannt, wie will man dann die Jugend anleiten, das Böse zu meiden und ehrenhaft und fromm zu leben? Wie will man für Familie und Staat einen Nachwuchs heranziehen, der das Gemeinwohl zu fördern vermag, der gesittet, ordnungs- und friedliebend ist?
5. Die Folgen waren Völker- und Bürgerkriege
Waren aber einmal die Grundsätze der christlichen Weisheit außer Geltung gesetzt, dann brauchte man sich nicht zu wundern, dass die Saat der Zwietracht allenthalben auf so günstigem Boden aufging und schließlich zu jenem entsetzlichen Krieg sich auswuchs, der mit Blut und Gewalt den Hass unter den Völkern und unter den Volksklassen ungemessen steigerte, anstatt ihn durch Erschöpfung zu mildern.
IV. Die Heilmittel gegen die Zeitübel
Bisher haben Wir, Ehrwürdige Brüder, von den Ursachen der Übel gesprochen, an denen die menschliche Gesellschaft leidet; jetzt wollen wir nach den geeigneten und der Natur jener Übel entsprechenden Heilmitteln suchen.
1. Gegen den Hass
a) Der Friede muss in die Herzen der Menschen einziehen.
Zuallererst muss der Friede wieder in die Herzen der Menschen einkehren. Denn nicht viel nützen wird uns ein Friede, der nur äußerlich als solcher erscheint, der sozusagen nur wie eine Höflichkeitsform die gegenseitigen Beziehungen regelt. Uns tut ein Friede not, der in die Herzen dringt, sie beruhigt und sie zum brüderlichen Wohlwollen geneigt macht. Ein solcher Friede ist aber nur der Friede Christi: „Und der Friede Christi frohlocke in euren Herzen“ (Kol, 11, 15); so und nicht anders kann der Friede sein, den er den Seinigen gibt (Joh. XIV, 27), da er ja Gott ist und die Herzen durchschaut (I Kön. XVI, 7) und darin herrscht.
Mit Recht konnte andererseits Jesus, der Herr, diesen Frieden seinen Frieden nennen, er der als erster den Menschen verkündet hat: „Ihr seid alle Brüder“ (Matth. XXIII, 8). Er hat das mit seinem Blut besiegelte Gesetz der allgemeinen, gegenseitigen Liebe und Duldung feierlich verkündet: „Dies ist mein Gebot: liebet euch untereinander, wie ich euch geliebt habe“ (Joh. XV, 12); „Einer trage des anderen Last; so erfüllt ihr das Gesetz Christi“ (Gal. V1, 2).
b) Er muss ein Friede der Gerechtigkeít und der Liebe sein.
Daraus folgt klar, dass der wahre Friede Christi nicht von der Norm der Gerechtigkeit abweichen kann, da ja Gott selbst „nach der Gerechtigkeit richtet“ (Ps. IX, 5) und „das Werk der Gerechtigkeit der Friede ist“ (Is. 32, 17). Dieser darf aber nicht in harter und gleichsam eherner Gerechtigkeit allein bestehen, sondern muss durch das gleiche Maß von Liebe gemildert werden, deren Bestimmung es ist, die Menschen mit den Menschen zu versöhnen. Solcher Art ist also der Friede, den Christus den Menschen erworben hat, ja, wie Paulus so kraftvoll sagt: „Er selbst ist unser Friede.“
Denn Christus hat durch seinen Kreuzestod der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung geleistet, „die Feindschaft vernichtet, … den Frieden gestiftet“ (Eph. 11, 14 ff.) und alle und alles mit Gott versöhnt. Und mit Recht erblickt Paulus in der Erlösung nicht nur eine Tat der Gerechtigkeit, sondern vor allem ein göttliches Werk der versöhnenden Liebe und bekennt: „Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat“ (II. Kor. V, 19). „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen Eingeborenen Sohn dahingab“ (Joh. 1, 16).
Am treffendsten hat, wie stets, der Englische Lehrer sich hierzu geäußert, indem er sagt: der wahre und echte Friede ist eher eine Sache der Liebe als der Gerechtigkeit; diese beseitigt die Hindernisse des Friedens, wie Gewalttätigkeiten und Schädigungen, der Friede aber ist vorzüglich und im eigentlichen Sinne eine Betätigung der Liebe (Thom. 2a, 2ae, q. 29, III ad 3um).
e) Der christliche Friede schützt die Reinheit der Sitten und den Adel des Menschen.
Sind also die Begierden gezügelt und die geistigen Güter wieder nach ihrem Werk geachtet, dann stellt sich der christliche Friede wie von selber ein mit allen seinen wohltätigen Wirkungen: er verbürgt die Reinheit der Sitten und erhöht die Würde der menschlichen Persönlichkeit, die durch das Blut Christi erlöst, zum Kind des himmlischen Vaters und damit zum Bruder Christi geweiht, durch Gebet und Sakramente der göttlichen Natur und Gnade teilhaftig und bestimmt ist, den Lohn für ein reines Leben auf Erden zu empfangen und die göttliche Glorie ewig zu genießen.
c) Christus muss wieder herrschen:
1. Im Einzelmenschen.
Darin besteht, kurz gesagt, das Reich Christi. Christus herrscht zuerst über die Einzelnen: im Verstand durch seine Lehren, im Herzen durch seine Liebe, im ganzen Leben durch die Befolgung seines Gesetzes und die Nachfolge seines Beispiels.
2. In der Familie.
Christus herrscht in der Familie, sofern sie auf das Sakrament der Ehe begründet ist und ihre Heiligkeit nicht verletzt wird; wenn die elterliche Autorität ein Ausdruck von Gottes Vaterschaft ist, von der sie Ursprung und Namen hat; wenn die Kinder den Gehorsam des Jesusknaben nachahmen, wenn das ganze Leben von der heiligen Würde der Familie in Nazareth durchweht ist.
3. Im Staat.
Jesus, der Herr, herrscht schließlich im Staat, wenn in ihm Gott die höchste Ehre erwiesen wird, wenn er von Gott Ursprung und Recht seiner obrigkeitlichen Gewalt herleitet, so dass die Regierungsgewalt nicht überschritten und die Gehorsamspflicht und Würde der Staatsbürger nicht gekränkt wird; Christus herrscht im Staat, wenn er der Kirche die ihr von ihrem Stifter verliehene Würde als einer vollkommenen Gesellschaft, der Lehrerin und Führerin der anderen Gesellschaften, zuerkennt; nicht etwa so, als ob sie deren Autorität schmälerte — sind sie doch in ihrem Bereich rechtmäßig — sondern sie vervollkommnet sie in dienlicher Weise, wie die Gnade die Natur vervollkommnet.
Nur auf diese Weise ist die Gesellschaft den Menschen ein kräftiger Schutz und hilft ihnen, ihr höchstes Ziel, die ewige Seligkeit, zu erreichen und damit auch ihr irdisches Leben sicher und glücklich zu gestalten.
3. Nur im Reich Christi ist Christi Friede möglich
Es gibt also nach alledem keinen Frieden Christi, außer da, wo Christus herrscht. Wir können also auch nicht besser der Sache des Friedens dienen, als indem wir das Reich Christi wiederherstellen. Wenn daher Pius X. sich zum Ziele setzte „alles in Christo zu erneuern“, so bereitete er damit, wie unter göttlicher Eingebung, jenes Friedenswerk vor, das später Benedikt XV. sich vorgenommen hat.
Wir wollen nun, was Unsere beiden Vorgänger erstrebten, zu einer Aufgabe verbinden und mit allen Kräften verfolgen: den Frieden Christi im Reiche Christi. Dabei vertrauen wir in allem auf die Gnade Gottes, der Uns bei der Übertragung der höchsten Gewalt seinen ewigen Beistand versprochen hat. –
aus: Carl Ulitzka, Lumen de caelo, Praktische Ausgabe der wichtigsten Rundschreiben Leo XIII. und Pius XI., 1934
Die gesamte Enzyklika findet sich hier (z. Zt. noch nicht erstellt):
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